Kapitel 14: Big Data

Big Data wird gerne missinterpretiert mit „viele Daten“. Viele Daten in strukturierter Form können unsere Computer aber schon sehr lange verarbeiten. In Deutschland gibt es grob 450.000 sog. apothekentypische Produkte, also Arzneimittel, Kosmetik und Freiwahl-Artikel. Technisch finden sich diese in einer sog. Pharmazentraldatei. Wenn man dazu die gut 40.000 Kunden- bzw. Abverkaufsvorgänge hinzunimmt, die im Computersystem jeder deutschen Apotheken im Schnitt jährlich anfallen – und die jede auf dem deutschsprachigen Markt verfügbare Warenwirtschaft problemlos verarbeiten kann – so merkt man, dass es nicht die schiere Menge alleine ist, die Daten unbeherrschbar macht.

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Apotheken sind schon ziemlich digital mit ihren Warenwirtschaftssystemen. Diese können schon immer eine Vielzahl an Arzneimittelinformationen und Kundenvorgängen verarbeiten.

Der Begriff Big Data bezeichnet vielmehr Datenmengen, die

–        Zu groß oder
–        Zu komplex oder
–        Zu unstrukturiert sind oder
–        Sich zu schnell ändern,

um sie mit den klassischen Methoden der Datenverarbeitung auswerten zu können.

Ein Beispiel, das mir klar gemacht hat, wie das funktioniert, ist folgendes: stellen Sie sich vor, man würde sämtliche Reiseführer dieser Welt einscannen und in von einem intelligenten Computer lesen lassen. Wenn man dann den Computer fragen würde, wie New York aussieht, könnte er aus den vorliegenden, unstrukturiert-prosaischen Informationen der Reiseführer die Häuserschluchten Manhattans, die gelben Taxis oder das grüne Rechteckt des Central Parks in der Mitte beschreiben. Big Data Algorithmen haben eine semantische Komponente: Sie erkennen, was mit Begriffen unterschiedlicher Bedeutung tatsächlich gemeint ist, und stellen ganz von selbst Verbindungen zwischen den Informationen her.

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Der Times Square in Manhattan

Doch Big Data ist mehr, als nur das Zurverfügungstellen von Analysen. Die Algorithmen von Big Data Anwendungen können auch in Echtzeit auf das Nutzerverhalten der Anwender reagieren. Beispielsweise kann man auch einfach herausfinden, dass Preise im Internet nicht immer gleich sind:

–        Die höchsten Preise haben Waren sonntags, bei Regen, wenn man von einem Apple-Computer aus danach sucht
–        Montags bei Sonnenschein, von einem Windows-PC aus, hat derselbe Artikel auf demselben Portal den niedrigsten Preis.

Das System reagiert hier auf den Nutzer selbst. Apple-Nutzer sind eher besser situiert und schauen nicht so aufs Geld; Windows hingegen erlaubt weniger generelle Aussagen über die Vermögensverhältnisse des einzelnen, hat aber aufgrund der hohen Marktdurchdringung eher alle Einkommensklassen untern den Anwendern. Zusätzlich ist die Nachfrage an einem verregneten Sonntag höher, wo deutlich mehr Leute im Internet surfen (und dabei auch im Internet einkaufen), als an einem sonnigen Montag, wo die potentiellen Konsumenten entweder in der Arbeit sind oder die Freizeit auf andere Art als vor dem Computer genießen. Und diese größere – natürlich von den Algorithmen der Online-Shops kalkulierte – Nachfrage wirkt sich in Echtzeit auf den dargestellten angebotenen Preis an.

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Wir haben gelernt: sonntags bei Regen kaufen wir an diesem Computer nichts!

Zu Big Data gibt es inzwischen auch ein paar interessante Ansätze aus der Gesundheitsbranche. Mit dem inzwischen gestoppten Programm „Google Flu Trends“ hat Google erstmals versucht, Suchanfragen zu Symptomen auszuwerten und dann versucht, daraus Grippewellen abzuleiten und vorauszusagen. Das Programm wurde im Jahr 2008 erforscht und dann, als es den Höhepunkt der Grippewelle des Jahres 2013 komplett verpasste, von Google leise eingestellt. Die Gründe für das Versagen von Google Flu Trends lagen vor allem in den Algorithmen, die noch nicht ganz ausgereift waren und saisonal gleichzeitig stattfindende Ereignisse (und somit Suchanfragen), wie in diesem konkreten Fall z.B. die Play-Offs im US-College Basketball, mit in die Berechnungen einbezog und somit die eigentlich relevanten Suchbegriffe dramatisch unterbewertete.

Eine Meldung aus dem Ärzteblatt vom August 2016 zeigt, dass die Welt sich inzwischen weiter gedreht hat und die IT-Branche aus dem Scheitern von Google Flu Trends gelernt hat: Forschern des Instituts für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück ist es inzwischen gelungen, mit Hilfe von Twitter die Entwicklung von Grippewellen vorherzusagen. Auf Twitter werden täglich über 500 Millionen Kurznachrichten, sogenannte Tweets, verfasst. Daher reicht die Suche nach Schlüsselwörtern nicht mehr aus – man muss die Inhalte verstehen. Die Forscher verwenden hierzu den sog. „Supercomputer Watson“ der Firma IBM. Watson versteht laut IBM die menschliche Sprache. Das, gepaart mit noch nie da gewesener Rechnerkapazität, bringt die kognitiven Fähigkeiten eines Computersystems näher an die des Menschen als jemals zuvor und wird vermutlich sehr kurzfristig bahnbrechende Innovationen, vor allem in den Bereichen Gesundheit und Finanzen, erschaffen. Laut IBM ist Watson in der Lage, selbständig Informationen aus Daten zu ziehen und daraus Schlüsse zu ziehen. Und natürlich ist diese Art der künstlichen Intelligenz ein selbstlernendes System, das in der Lage ist, sich selbst aus den Ergebnissen vergangener Berechnungen und Prognosen permanent weiter zu entwickeln und zu verbessern. Dieser „deep learning“ genannte Ansatz gilt als wegweisender technologischer Ansatz für die Zukunft der künstlichen Intelligenz und sollte keinesfalls aus den Augen verloren werden.

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Wird künstliche Intelligenz die Menschheit auf die nächste Evolutionsstufe bringen?

Dabei wird IBM nicht müde zu betonen, dass keineswegs der Arzt dadurch abgeschafft werden soll. Vielmehr soll die enorme Macht dieser Technologie beim Durchforsten von Daten in bisher nicht dagewesenen Größenordnungen – die noch dazu ständig, täglich, ja sogar stündlich weiter anwächst – den Arzt bei der Diagnose und Auswahl der für den einzelnen Patienten optimalen Therapie unterstützen. Schlüssig ist das insofern durchaus, als mit der Menge der Daten auch die Anzahl an vergleichbaren Fällen ansteigt und die menschliche Kapazität, all dies intellektuell zu erfassen und zu verarbeiten (ganz zu schweigen von dem „Glück“; das man haben muss, um überhaupt auf die relevanten Informationen zu stoßen) an ihre Grenzen stößt. Noch ist jegliche Prognose über die Erfolgsaussichten dieser Technologie im Allgemeinen und von Watson im Besonderen reine Spekulation. Im Idealfall entsteht aber am Ende ein System, in welchem sich die menschliche Intuition des Arztes, auf die sicher niemand verzichten möchte, mit der analytischen Effizienz des Computers so paaren lässt, dass am Ende der Patient davon massiv profitiert. Und was für eine Unterstützung für Apotheker sich da anbahnt! Man denke nur an den Medikationsplan und die schier unbeherrschbare Menge an Arzneimittelkombinationen, Unverträglichkeiten, Allergien und Besonderheiten, die es hierbei zu beachten gibt. Wer wäre nicht für derartige Unterstützung dankbar (natürlich ohne sich dabei blind auf sie zu verlassen)?

Ein Stolperstein hierbei könnte noch das Entlohnungssystem im Gesundheitswesen sein: so lange Ärzte für das Durchführen einer Behandlung besser entlohnt werden als für die reine Beratung, einfach weil ein „Mehr an Leistung“ berechnet werden kann, wird bei wirtschaftlicher Notwendigkeit immer eine Therapie begonnen werden – selbst wenn im Einzelfall die Masse der Daten auf die Selbstheilungskräfte des menschlichen Körpers bauen würde und die Durchführung einer Therapie somit eher nicht indiziert wäre. Vergleichbares gilt für Apotheker: so lange es keine Honorierung für die Nicht-Abgabe eines Arzneimittels gibt, ist aus rein wirtschaftlicher Sicht immer der Verkauf eines Arzneimittels zu bevorzugen. Warum sollten aber nicht auch Apotheker für Beratung entlohnt werden?

Natürlich weiß ich, dass die ethischen Maßstäbe, welche die meisten Apotheker und Ärzte an sich und ihren Beruf legen, weit höher sind, als ich das im letzten Absatz habe durchklingen lassen. Dennoch: die Entlohnungsdiskussion muss geführt werden. Sie wird in den nächsten Jahren dramatisch an Bedeutung gewinnen und für die beiden Berufsstände eine nur mit dem „Edikt von Salerno“ vergleichbare Wirkung entfalten.

Es lohnt sich also durchaus, auf Modelle zu schauen, wo Mensch und Maschine im Gesundheitsbereich bereits gut miteinander kooperieren. Hierzu ein paar Beispiele.

Ein äußerst interessanter Ansatz ist der von ADA, einem Start-Up mit Sitz in Berlin, München und London, deren Produkte in UK, Neuseeland und Australien bereits auf dem Markt sind. Der Ansatz hier geht über Big Data: der Patient beschreibt der ADA-App, die von Ärzten und Computerspezialisten entworfen wurde, seine Symptome. Durch konkrete – vorgefertigte – Nachfragen geht das System über die beschriebenen Symptome dem Leiden der Patienten auf den Grund. Es kann dabei die Freitexteingaben (unstrukturiert, also big-data-relevant) „verstehen“ und vor allem verarbeiten. Bei den Symptomen „Schmerzen“ ist ADA schon heute in der Lage, aus den Eingaben des Patienten, unterstützt durch Fragen seitens der Anwendung, den Patienten direkt zum richtigen Spezialisten zu schicken. Üblicher Weise werden Schmerzpatienten noch mehrfach weiter verwiesen, bis der „richtige“ Spezialist die Schmerzbehandlung beginnen kann.

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Das Smartphone unterstützt bei der Anamnese den Arzt.

Doch das ist nicht alles. Die gesammelten Daten können natürlich auch direkt dem Spezialisten zur Verfügung gestellt werden, so dass die Anamnese nicht von vorne beginnen muss. In Neuseeland und Australien vermittelt die Plattform zusätzlich Videokonferenzen mit dem empfohlenen Spezialisten. In diesen Ländern, wo die Entfernung zu einem Spezialisten gerne auch mal eine Tagesreise beträgt, hat so eine Anwendung das Potential, die Patientenversorgung deutlich zu verbessern, ohne dass dadurch die Heilberufler überflüssig werden und gleichzeitig die Grenzkosten des Gesundheitssystems zu senken.

In Australien gibt es auch eine App, die Patienten mit Hustenleiden unterstützt. Husten kann, so wurde mir erklärt, diverse Ursachen haben: Bronchitis, Erkältung, Halsreizungen bis hin zu Mundsoor, Asthma, und vielem mehr. Wichtig ist hier also die schnelle, richtige Diagnose, damit eine spezialisierte Weiterbehandlung erfolgen kann. Die Ursache muss gefunden werden. Und genau das macht die erwähnte App: der Patient hustet einmal in das Mikrofon seines Smartphones, dann wird das Geräusch auf einem Server analysiert und binnen kürzester Zeit erhält der Patient ein Feedback über die Ursache seines Leidens. Das alles mit so hoher Treffsicherheit, dass die australischen Krankenkassen dem Betreiber der App pro untersuchter Audiodatei 15 australische Dollar bezahlen. Diese rentieren sich mehrfach, denn der Patient muss nicht von Arzt zu Arzt ziehen, sondern wird direkt an den richtigen Spezialisten verwiesen. Und die Ärzte, die nun nicht mehr „umsonst“ aufgesucht werden, können ihre Zeit und vor allem ihr Können für die Patienten aufbringen, die es auch wirklich benötigen.

Wir stehen hier am Anfang eines Umbruchs, der in vielen anderen Branchen schon viel weiter gediehen ist. Und manchmal frage ich mich: wird man in Zukunft Leute, die man auf der Straße trifft, überhaupt noch fragen „wie geht’s?“ – oder weiß man das im Voraus, weil es einem das eigene Smartphone bereits angezeigt hat …