Kapitel 15: Big Data Reloaded – das menschliche Genom

Am 26.Juni 2000 verkündete der damalige US-Präsident Bill Clinton die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts. Die Heilbarkeit und Vorbeugung sämtlicher Krankheiten schien unmittelbar bevorzustehen und die Menschheit endgültig von ihren schlimmsten Leiden befreit. Heute weiß man, dass die Entschlüsselung des menschlichen Genoms erst der Anfang einer – nicht zu unterschätzenden – Entwicklung war und nicht deren Schlusspunkt. Es war, als ob man auf eine Bibliothek mit 25.000 Büchern gestoßen sei – und sofort erzählen sollte, was denn nun eigentlich genau drin stehe.

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Die Entschlüsselung des Humangenoms: ein Puzzle mit SEHR vielen Teilen …

Mit den damaligen Rechnerkapazitäten und Algorithmen war das noch nicht möglich. Im Jahr 2000 ging man noch davon aus, dass das menschliche Genom um die 100.000 Gene enthält. Seit der vollständigen Entschlüsselung im April 2003 weiß man, dass es sich „nur“ um 20.000 bis 30.000 Gene handelt. Wenn man seine Gene entschlüsseln lässt, erfährt man viel Interessantes über sich selbst. Beispielsweise die geographische Zusammensetzung des eigenen Erbguts, über das man gut die Wege der Völkerwanderungen der letzten Jahrtausende ablesen kann. Aber auch Prädispositionen für schwere Gebrechen, sonstige gefährliche Mutationen oder gar unheilbare Krankheiten können dabei ans Tageslicht gefördert werden. Man sollte sich also gut überlegen, ob man das alles wirklich wissen will.

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Auch Albinismus basiert auf einer Genmutation

Lagen die Kosten für eine komplette Entschlüsselung eines Genoms im Jahr 2003 noch bei über 3 Milliarden US-Dollar, so war der Preis im Jahr 2010 bereits auf ungefähr 10.000 US-Dollar gesunken. Und heute kann jeder für ca. 1.000 US-Dollar sein Genom komplett entschlüsseln lassen; für weit weniger Geld – derzeit 99 US-Dollar – kann man beispielsweise beim Anbieter „23 and me“ Teile seines Erbguts auf die eben erwähnte geographische Abstammung seiner Gene untersuchen lassen; und wer nochmal 100 US-Dollar drauf packt, bekommt auch noch einen gesundheitlichen Risiko-Check obendrauf.

Was mir bis zur Recherche zum „Edikt von Cupertino“ nicht bekannt war: es gibt bei herkömmlichen, schulmedizinische Medikamenten Unwirksamkeitsraten, die nicht selten bei 30% bis 40% liegen. Das heißt, dass tatsächlich 30 bis 40 Patienten von 100 auf die Medikamente, die ihnen der Arzt verordnet hat, überhaupt nicht ansprechen. Im Falle von Antidepressiva könnten die Psychiater und Neurologen genauso gut eine Münze werfen – dort liegen die üblichen Unwirksamkeitsraten bei 50%. Ganz dramatisch wird es in der Krebstherapie, wo es Unwirksamkeiten von bis zu 70% gibt. Onkologen führen deshalb heute schon Gen-Mutationstests aus, um daraufhin die Therapie auf den jeweiligen Patienten hin persönlich optimal anpassen zu können.

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Die Bekämpfung von infizierten Zellen sollte kein Glücksspiel sein

Eine der größten Herausforderungen hierbei wird es sicher sein, die gewonnenen diagnostischen Erkenntnisse systematisch zu analysieren, um die Behandlung weiter zu verbessern. Big Data kann hier helfen, indem es große Vergleichsgruppen betroffener Patienten schneller durchforsten kann, als das mit analogen Methoden möglich wäre.

Natürlich könnte das in letzter Konsequenz bedeuten, dass die Erst-Anamnese irgendwann nicht mehr von einem Arzt gemacht wird. Was sich heute nach einem Sakrileg anhört, könnte aber auch der Durchbruch zu einer effizienten und flächendeckenden medizinischen Versorgung sein: die automatisierte Erst-Anamnese trennt sozusagen die „Spreu vom Weizen“. Die Ärzte könnten sich dann um die Risikopatienten besser kümmern, diese eingehender untersuchen und müssten nicht mit hohem Zeitaufwand auch die Patienten behandeln, bei denen aus den Daten klar hervorgeht, dass kein Risiko für eine schwere Erkrankung vorliegt – oder die nur eine Krankschreibung benötigen.

Anders gesagt: jeder Arzt könnte dadurch die administrativen Arbeitenreduzieren; auch für Bagatellpatienten müssen Rechnungen geschrieben, Einträge ins Praxis-Verwaltungs-System (PVS) erstellt, Termine vergeben werden und vieles mehr. Das klingt heute vermutlich noch sehr idealistisch, aber das hierin steckende Potential ist zu groß, als dass wir den Gedanken komplett als Spinnerei abtun sollten.

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Manchmal ist auch gar keine Anamnese notwendig und der Sachverhalt eindeutig …

Übrigens stellte sich, kaum war das Genom entschlüsselt, eine weitere Stufe der Komplexität ein: bei eineiigen Zwillingen, die ja genetisch identisch sind, sollte man eigentlich grundsätzlich davon ausgehen können, dass wenn einer der beiden an Krebs erkrankt, dieses Schicksal auch den andere ereilt; immerhin gelten mutierte Gene als Hauptgrund für den Ausbruch von Krebs. Und diese Mutationen haben bei eineiigen Zwillingen auch stets beide. Tatsächlich gibt es auch Statistiken, die beweisen, dass innerhalb eines Zeitraums von 7,5 Jahren nach der Erkrankung des einen Zwillings häufig – und zwar statistisch häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt – auch der andere an derselben Krebsart erkrankt. Aber, und das macht das Thema so interessant, tritt diese Erkrankung des anderen Zwillings nur häufig auf und nicht immer. Die Forschung vermutet, dass hier Mikrobiome, das soziales Umfeld und noch weitere, noch nicht komplett erforschte Faktoren die entscheidende Rolle spielen.

monster-2255973_1920Dadurch entsteht für mich der Eindruck, dass wir es bei der endgültigen Ausrottung von Krankheiten mit einer Hydra zu tun haben, der für jeden Kopf, den man ihr abschlägt, drei neue nachwachsen. Die Forschung, die durch die Entschlüsselung des Genoms so viel an Wissenszuwachs und Daten gewonnen hat, steht anscheinend immer noch am Anfang und die Vision, dass alle Krankheiten heilbar sein werden, bleibt bis auf weiteres nur ein unerfüllter Wunsch.

Ein Wunsch, zu dessen Wahrwerdung die vielen Gesundheitsdaten auf der Welt sicherlich einen großen – wenn nicht den größten – Beitrag leisten können.

Hiermit endet der dritte Teil, in dem ausführlich über Daten als Grundlage digitaler Geschäftsmodelle und deren Auswirkungen auf die Gesundheitsbranche und Apotheken geschrieben wurde.  Nächste Woche, im vierten Teil dieses Blogs, werden in insgesamt 7 Kapiteln die bisher geschilderten technologischen Trends konsequent weiter gesponnen und münden dann in einer umfassenden Vision über die Apotheke der Zukunft.