Kapitel 19: der Patient im Mittelpunkt

Die Digitalisierung hat auf das gesamte Gesundheitswesen eine katalytische Wirkung: noch nie war den Menschen Expertenwissen so schnell und einfach zugänglich wie heute. Gesundheitsplattformen, bei denen man sich unter Leidensgenossen austauschen kann, bieten inzwischen oftmals ebenso gute Informationen wie die medizinisch fundierteren Informationsplattformen der großen Pharmaunternehmen oder anderer Gesundheitsorganisationen. Gleichzeitig, vor allem getrieben durch Wearables und Smartphones, die ohne Unterlass Informationen erheben und aufzeichnen, sind die Patienten über ihre eigenen Gesundheitsdaten und relevanten Parameter besser informiert als jemals zuvor. Zumindest scheint es jedenfalls so.

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Patienten haben heute eine Vielzahl an Informationsquellen

Denn hier wird bei näherem Hinschauen schon der erste Konflikt sichtbar: die im Internet frei zugänglichen Informationen sind zwar in aller Regel nicht falsch. Oftmals bekommen im Internet diejenigen mit den extremsten Ansichten aber auch die meiste Aufmerksamkeit und stehen in den Suchmaschinen ganz oben. Durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Quellen für jedes beliebige Problem, wird Wissen quasi demokratisiert und häufig bleibt nur ein kleiner gemeinsamer Nenner übrig von dem, was aufgrund einer individuellen Anamnese therapeutisch geboten wäre. Und auf den Seiten der Pharmahersteller steht natürlich ebenfalls nichts Falsches. Aber hier werden die Informationen natürlich immer möglichst positiv dargestellt, die Marketingabteilung lässt grüßen … und Nebenwirkungen? Gibt’s doch keine!

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Welcher Informationsquelle man hier wohl trauen sollte?

Folglich kommen die Patienten mit im Vergleich zu früheren Zeiten veränderten Erwartungshaltungen in die Arztpraxis oder Apotheke. Früher haben sich die Patienten (nahezu) blind auf die Empfehlung der Vertrauensperson Arzt oder Apotheker verlassen – und in meiner Erinnerung taten sie das gerne. Heute suggerieren Foren im Internet, dass die Apotheker sich entweder selbst bereichern mit jedem Verkauf (warum gibt es sonst im Ausland Rabatt auf Rezepte bei ausländischen Apotheken?) oder, für diejenigen, die verstanden haben, dass das EuGH-Urteil vom 19. Oktober 2016 ein EU-rechtlich unschöner Fall der sog. „Inländerdiskriminierung“ sein könnte, bloße Erfüllungsgehilfen der Pharmaindustrie sind. Aber die Apotheken-Umschau mit Fernsehprogramm nehme ich gerne, für mich und meine Nachbarin auch noch, bitteschön, ist ja gratis.

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„Hier steht aber …“

Von daher wird es wichtig sein, die eigene Kommunikation und auch die der Mitarbeiter hierauf anzupassen. Das „warum“ einer Empfehlung wird immer wichtiger werden – denn Ihr Gegenüber weiß im Zweifel schon „warum nicht.“ Den aus diffusen Quellen genährten Bedenken Ihrer Patienten und Kunden sollten Sie ernsthaft und mit Empathie begegnen, denn genau das wird eine Maschine niemals bieten können: Einfühlungsvermögen. Noch besser ist es natürlich, Sie bewegen sich selbst in Patientenforen und formen so die Erwartungshaltung auch Ihrer Kunden mit. „Sie haben ja sicher gelesen, dass bei Ihren Symptomen unterstützend am besten dieses Mittelchen hier aus der Sichtwahl hilft“ – ein sicherer Treffer, wenn diese Information schon im Vorfeld die Runde gemacht hat.

Einen anderen Nachteil bringt der gefühlte Informationsvorsprung der Patienten mit sich: sie vergleichen. Preise von hochpreisigen rezeptfreien Arzneimitteln wie Orthomol oder Wobenzym können im Internet ganz einfach verglichen werden. Die Ware ist immer die Gleiche – und wenn ich rechtzeitig bestelle, ist es völlig egal, ob ich bei meinem Apotheker vor Ort kaufe und die Ware direkt mitnehme, oder auf ein Päckchen von der Versandapotheke warte. Zeit bzw. sofortige Verfügbarkeit spielt für vorausplanende Kunden keine Rolle.

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Achtung, Schnäppchenjäger! Was sind Ihre Argumente für dieses Kundensegment?

Die Informationsgewinnung findet im Internet statt, sowohl im Hinblick auf die Hintergrundrecherche zu Krankheiten, Therapie und Arzneimitteln, als auch auf den Preisvergleich. Darauf konzentriert der Patient seine Aufmerksamkeit in dem Zeitpunkt, in welchem er sich informiert, unabhängig davon, ob er auf einem Mobilgerät, Laptop oder stationären Computer surft. Kurz gesagt: Ihr Patient ist schon im Internet – es ist Ihre Aufgabe, ihn dort abzuholen. Welchen zusätzlichen Nutzen können Sie ihm anbieten, um ihn dauerhaft dazu zu bringen, weiterhin Ihr Patient und vor allem Ihr Kunde zu bleiben? Wie können Sie optimal die analoge Welt Ihrer Offizin-Apotheke mit den scheinbar grenzenlosen Weiten der digitalen Welt verknüpfen?

Wenn man anschaut, welche digitalen Anwendungen sich in den letzten 15 Jahren durchgesetzt haben, so waren es stets diejenigen, die einen jeweiligen Bedarf des Verbrauchers optimal befriedigen konnten. In der digitalen Welt entscheidet also jeder einzelne Nutzer über Erfolg oder Misserfolg eines Produktes. Theoretisch ist das also Demokratie in ihrer Reinform – jede Stimme zählt. Die Erhaltung und Förderung der Gesundheit wiederum ist ein menschliches Grundbedürfnis, das allerdings einen Haken hat: solange die Gesundheit eines Menschen nicht beeinträchtigt ist, hat dieser Mensch oft keinen Anlass, etwas für seine Gesundheit zu tun. Im Gegenteil: viele Menschen unternehmen bewusst Handlungen, die der Gesundheit Schaden zufügen, wie Rauchen, Drogenkonsum oder manche Extremsportarten.

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Wie können wir ihn davon abhalten, diese Mahlzeit jetzt zu sich zu nehmen?

Die Lösung: man muss es den Menschen leicht machen, ihre eigene Gesundheit mit den neuen Werkzeugen, die die Digitalisierung bietet, zu fördern. Wenn man Experten, Ärzten oder Apothekern beispielsweise Zugang zu bestimmten Informationen, wie dem Medikationsplan, geben würde, könnten diese Experten in Echtzeit und mit einem sehr hohen Automatisierungsgrad mit dem Patienten in Kommunikation und Interaktion treten. Sie könnten ihm Hilfestellung geben, was er anhand der vorhandenen Informationen besser machen kann. Ihn zum Beispiel an die regelmäßige Einnahme seiner Dauermedikation erinnern – und wenn ein Arzneimittel zu Ende geht, das Folgerezept automatisiert beim behandelnden Arzt nachbestellen … und in die Apotheke oder direkt per Bote zum Patienten schicken lassen. Schließlich lägen die Informationen dann ja alle vor.

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Ein Ansatzpunkt für patientenzentrierte Kommunikation: der Medikationsplan; Bild (c) NOVENTI.digital GmbH

Wüsste man, wann man die ungeteilte Aufmerksamkeit des Patienten hat, könnte man ihm in just diesem Moment die Informationen zukommen lassen, die seiner Gesundheit dienen. Man könnte Angehörige informieren, wenn die Therapie eigenmächtig abgebrochen wird und über alle bekannten Folgen dieser Non-Compliance informieren. Schließlich sind sie neben dem Patienten die hauptsächlich Leidtragenden, wenn die Therapie eigenmächtig abgebrochen wird. All das lässt sich bestens kombinieren, sowohl mit den unternehmerischen Interessen von Ärzten, Apothekern und sonstigen Leistungserbringern, aus denen diese ihren Lebensunterhalt bestreiten, als auch mit dem ethischen Anspruch, möglichst viel zur Förderung und Erhaltung der Gesundheit „seiner“ Patienten zu tun. Und alles, was man dazu braucht, haben wir schon: die Gesundheitsdaten der Patienten.

Es gibt nur ein Problem: man darf sie nicht ohne Weiteres einfach so verwerten …