Wieso ich mich berufen fühle, über Apotheken und Digitalisierung zu schreiben

Ich habe beruflich das Glück, dass Digitalisierung zu meinem Schaffensschwerpunkt gehört – von Anfang an. Im Winter 1993 kam ich von einem längeren Auslandsaufenthalt, den ich mir nach dem Abitur gegönnt hatte, zurück nach Dießen am Ammersee. Um meinen Eltern nicht nur auf der Tasche zu liegen und die Zeit bis zum Studienbeginn (was ich überhaupt studieren wollte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt ohnehin noch nicht) sinnvoll zu überbrücken, heuerte ich bei einem Freund meiner Eltern an – einem Apotheker. Ich sollte dort seine beiden PKAs im Warenlager unterstützen und parallel dazu die EDV auf Trab halten. Der Server stand damals im Keller, war so groß wie ein Whirlpool und sorgte für mollige Wärme, selbst im bitterkalten bayerischen Winter.

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Die Urkunde von 1994

Im April 1994 wurde ich dann gefragt, ob nicht nach Mannheim mitkommen wolle zu einem Kurs für die Neueinführung des vorhandenen Computersystems. Klar wollte ich, Computer fand ich schon immer cool und dass die antiquierte Kiste im Apothekenkeller endlich durch etwas Moderneres abgelöst werden sollte, war alleine schon sehr verheißungsvoll. Der Kurs begann dann damit, dass wir u.a. mit dem Mauszeiger eine Katze fangen sollten, die sich langsam über den Bildschirm bewegte. Das wirkt heute absurd, aber Anfang der 90er konnte noch niemand mit so etwas Bizarrem wie einer Maus umgehen und etliche der Kursteilnehmer taten sich damit auch ziemlich schwer.

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Fotoshooting in einer Apotheke (2014)

Ich hätte damals nicht gedacht, dass die Urkunde für die erfolgreiche Teilnahme am Kurs wahrscheinlich DIE grundlegende Weichenstellung für mein bisheriges Berufsleben sein würde. Das ist sie aber: 8 Jahre nach dem erwähnten Kurs habe ich bei diesem Unternehmen, damals noch die Pro-Medisoft GmbH. angefangen. Natürlich nicht, ohne zuvor brav mein Jurastudium und das Referendariat abzuschließen; während dieser Zeit habe ich aber jedes Wochenende und alle meine Semesterferien weiter in der Apotheke in Dießen am Ammersee gejobbt: Ware wegräumen, Botenfahrten – aber auch Management-Aufgaben wie Personalplanung und (kaufmännische) Urlaubsvertretung gemeinsam mit einer Approbierten. Nochmal 7 Jahre später firmierte die Pro-Medisoft durch eine Fusion zweier Wettbewerber zur jetzigen awinta GmbH um, nochmal 4 Jahre später wurde ich in deren Geschäftsführung berufen und seit 2016 bin ich nun bei der NOVENTI GmbH, dem Gesellschafter dieser awinta, beschäftigt.

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Arbeitsalltag in der Hotline (2006)

Also kann ich durchaus behaupten, dass mich die Digitalisierung, die im Jahr 1993 natürlich noch niemand so genannt hat, mein ganzes Berufsleben lang begleitet, dieses vermutlich sogar maßgeblich mitgeprägt hat. Ich habe das Glück, dass ich mich vom Anwender, der mit den täglichen Macken eines Systems zu kämpfen hat, weiter entwickelt habe. Zuerst zum Supportmitarbeiter, der hinter den Kulissen nach Lösungen sucht. Später durfte ich dann in die Entwicklungsabteilung hinein schnuppern – noch heute finden sich einige Zeilen Code von mir in der Software (womit die Frage, wieso Apothekensysteme gelegentlich abstürzen, ebenfalls endgültig geklärt sein dürfte).

 

Im Jahr 2012 habe ich sogar als Vertriebschef gemeinsam mit meinem Team die Allianz Arena in München gemietet und dort sowie in 4 weiteren Fußballstadien eine Veranstaltung für Apotheker durchgeführt, von dem alle, die dort waren, heute noch schwärmen.

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Awinta-Sommerfest 2012 in der Allianz-Arena; v.l.n.r. Oliver Seibt (damals Vertriebsleiter Profimed), Florian Giermann, Dr. Markus Merk (FIFA-Schiedsrichter)

Also kann ich guten Wissens behaupten, dass ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich über Apotheken und Warenwirtschaftssysteme spreche. Und tatsächlich werde ich immer öfter gefragt, wie ich denn denke, dass die Zukunft der Apotheken-EDV aussieht.

Das ist eine schwierig zu bearbeitende Frage. Ich kenne viele Kollegen – bei allen Anbietern von Apotheken-Warenwirtschaften! – die mit vollem Einsatz für ihre Kunden und ihre Arbeitgeber arbeiten. Aber alles was ich bisher im Blog geschrieben habe, gilt natürlich in gleichem Maße auch für die Systemanbieter. Zuerst nämlich kaum merkbar, dann aber immer deutlicher, hat sich ein Wandel in der Gesellschaft vollzogen, der jetzt auch die Apothekenwelt erreicht hat. Ein paar Beispiele:

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    Gut, so alt sind unsere Wawi-Systeme dann zum Glück noch nicht …

    Anwender von Computerprogrammen erwarten heute, dass diese intuitiv bedienbar sind. Junge Apothekenmitarbeiter, die frisch von der Uni oder der PTA-Schule kommen, sind aber von Apple und Google „erzogen“ und dadurch einen hohen Bedienkomfort gewöhnt. Darin steckt ein Risiko nicht nur für die Anbieter von Warenwirtschaftssystemen, sondern auch für die Apotheker: gute Mitarbeiter findet man leichter mit einem attraktiven Arbeitsplatz – und dazu gehört selbstverständlich auch die EDV, mit der man den ganzen Tag arbeitet.

  • In den Apotheken liegt ein wahrer Datenschatz, der sowohl kommerziell als auch für die medizinische und pharmazeutische Forschung von höchstem Wert wäre. Nur nutzen darf man ihn, selbst in anonymisierter Form, nicht ohne Einwilligung der Patienten. Stattdessen bezahlen die Apotheken viele Ausgaben immer noch mit Geld – das am Ende dann doch wieder von den Versicherten kommt. Dabei sind die Verbraucher heute doch schon dahingehend erzogen, dass ihre Daten einer Währung gleich gestellt sind und die Bereitschaft, mit den eigenen Daten zu bezahlen, steigt nicht erst seit der Erfindung der Payback-Karte stetig an.
  • Moderne Mittel zur Kommunikation mit dem Patienten (Push-Nachrichten, Newsletter, u.ä.) sind in den Apothekensystemen, wenn überhaupt, nur rudimentär vorhanden. Mit ihren Dienstleistern und Verordnern kommunizieren viele Apotheken auch im Jahr 2018 noch bevorzugt per Fax. Kundennewsletter für bestimmte Interessensgebiete oder ähnliches oder gar automatisierte Werbung über Social Media – Fehlanzeige. Stattdessen wird der Stadtteilzeitung immer noch ein Flyer in 10.000-er Auflage beigelegt und Kunden werden mit Rabatten auf bestimmte Produktsegmente wie Kosmetik zu locken versucht.

Seit über 2 Jahren versuche ich daher auch in meiner Arbeit diesen gesellschaftlichen Wandel gegenüber Apothekern und Apothekenmitarbeitern zu verdeutlichen. In unzähligen Keynotes erzähle ich wieder und wieder, was Digitalisierung bedeutet, welche technologischen Megatrends damit gemeint sind und wie sich diese vor allem auf die Kommunikation mit dem Patienten auswirken werden. Dabei schlägt mir vor allem eins entgegen: blanke Angst.

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Vortrag in Frankfurt am Main im November 2017

Und in der Tat gibt es tagtäglich auf den Branchenportalen Nachrichten, die Apothekern suggerieren, dass ihnen bald das gleiche Schicksal droht, wie einst den Dinosauriern. Dazu kommen Patienten auch noch mit halbseidenen Informationen, die sie sich bei Dr. Google und Prof. Wikipedia besorgt haben, in die Apotheke und beanspruchen mehr Beratungszeit als früher. Gekauft wird dann aber online. Versandapotheken aus dem Ausland buhlen mit Boni um die chronisch Kranken, die deutsche Apotheken nicht geben dürfen. Die Politik wird durch ein Gutachten verleitet, die Vergütung der Apotheker nach unten zu korrigieren. Der neue Gesundheitsminister Jens Spahn ist bei Apothekern so beliebt wie der Steuerprüfer. Innovationen und Impulse kommen von vielen Seiten, nur selten aus dem Markt selbst. Und über all dem Ungemach schwebt dann auch noch das Damoklesschwert Amazon. Dieses verteufelte Amazon, das die intimsten Wünsche seiner Kunden besser kennt als die Kunden selbst, das etliche bestens sortierte Logistikzentren in ganz Deutschland unterhält und das seine Prime-Kunden sogar am nächsten Tag beliefern kann. Schon. Am. Nächsten. Tag!

Apotheker sollten die eben beschriebenen Horrorszenarien ernst nehmen. Schlimmer noch: sie beschreiben eine Wirklichkeit, die gar nicht mehr zu ändern ist. Und dennoch behaupte ich, dass es noch nie eine bessere Zeit für Apotheken gab, um den Berufsstand auf die nächste Stufe seiner Evolution zu heben und für die digitale Zukunft fit zu machen. Dazu muss man sich aber mit der Funktionsweise von digitalen Geschäftsmodellen auseinander setzen. Man muss verstehen, wie sie funktionieren und darf nicht in alten Denkmustern verharren. Außerdem muss man schonungslos die Ineffizienzen der bestehenden Systeme und Dienstleistungen betrachten und radikal ausmerzen. Macht man das richtig, wird nicht ein(e) Angestellte(r) in Apotheken, egal ob approbiert, PTA oder PKA, um ihren/ seinen Arbeitsplatz bangen müssen.

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Keine Angst vor der Digitalisierung – aber bitte damit auseinander setzen!

Bevor ich mich mit den Grundlagen von digitalen Geschäftsmodelle auseinandersetze, möchte ich aber zunächst fragen: verschlafen wir die Digitalisierung?