Digitalisierung: ein chaotisches System zweiter Ordnung

Die bisherige, kurze Geschichte der Digitalisierung ist voller überraschender Wendungen. Firmen, die in ihrem Segment Weltmarktführer waren, wie Altavista oder Nokia, verschwanden trotz hervorragender Produkte und Spitzentechnologien. Andere, wie Amazon oder Facebook, schlichen sich leise an und verdrängten dann innerhalb kürzester Zeit ihre Wettbewerber: wer kennt heute noch die einstigen „Stars“ wie bei den Online-Bücherversendern buecher.de, bol.de, libri.de oder im Bereich der sozialen Netzwerke wer-kennt-wen.de, lokalisten.de, StudiVZ.de?

arm-wrestling-567950_1920Deren Angebot unterschied sich nicht nennenswert von dem der „überlebenden“ Wettbewerber. Aber irgendwann gab es einen Zeitpunkt, zu welchem der eine Anbieter mehr und mehr Nutzer an den anderen verloren hat. Da die Angebote vergleichbar waren, sind rein marktwirtschaftliche Theorien zur Erklärung dieses Phänomens nicht zufriedenstellend? Warum hat sich in Deutschland beispielsweise Amazon gegenüber buecher.de durchgesetzt? Dank Buchpreisbindung waren die Preise vergleichbar, kostenfreien Versand gab es bei beiden von Anfang an und auch der Smart Shopper („Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben auch jenes gekauft“) war fester Bestandteil beider Plattformen. Irgendetwas scheinen die Kunden dann aber langfristig an Amazon interessanter gefunden zu haben.

Das eben genannte Beispiel beschreibt Unternehmen in einem nichtlinearen, dynamischen System; kurz: dem Chaos. Für digitale Geschäftsmodelle ist ein chaotisches Umfeld typisch, denn viele von ihnen betreten Neuland in komplexen und sich schnell ändernden Umgebungen. Sie existieren im Chaos und machen sich dessen Dynamik zu eigen. Amazon hat sich letztlich behauptet, weil es sich einfach erlauben konnte, über nahezu 20 Jahre Verluste zu schreiben – ein Luxus, den sich die meisten Unternehmen nicht leisten können.

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Auch ein Wasserfall ist dynamisch und chaotisch – und kann enorm viel Energie erzeugen

Bei chaotischen Systemen unterscheidet man zwischen Systemen erster Ordnung und Systemen zweiter Ordnung. Ein chaotisches System erster Ordnung reagiert nicht auf externe Einflüsse und ist somit allenfalls vage vorhersagbar. Klassisches Beispiel hierfür ist das Wetter. Hochkomplex und instabil reagiert es auf äußere Einflüsse – wie z.B. dem Start einer Rakete, die mehrere Schichten der für das Wetter relevanten Atmosphäre durchdringt – überhaupt nicht.

Ein chaotisches System zweiter Ordnung hingegen wird von den Voraussagen darüber, was mit und in ihm geschehen wird, beeinflusst. Ein Beispiel hierfür sind die Aktienmärkte: Informationen oder auch nur Gerüchte über bevorstehende Investitionen, Strafprozesse oder Marktneueinführen beeinflussen den Aktienwert der betroffenen Unternehmen und teilweise auch ganzer Aktienindizes und Volkswirtschaften. Märkte reagieren somit unmittelbar auf Aussagen, die über sie getroffen werden.

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Der Aktienmarkt: ein chaotisches System zweiter Ordnung

Die Digitalisierung ist ein solches chaotisches System zweiter Ordnung. Warum hat sich zum Beispiel Apple gegenüber Nokia bei Mobiltelefonen durchgesetzt? Warum Google gegenüber Yahoo? Ständig werden Prognosen von (meist selbsternannten) Experten über die Zukunftsfähigkeit bestimmter Firmen, Produkte oder Technologien gemacht. Wiederholt man diese lange genug, fängt ein relevanter Prozentsatz an Menschen an, daran zu glauben und die Prognose wird somit zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Inzwischen gibt es sogar Staatsoberhäupter, die über Twitter aktiv die Meinungsbildung in dem von ihnen regierten Land beeinflussen und sich somit genau diese Funktionsweise chaotischer Systeme zu Nutzen machen …

Somit darf man den Einfluss der Akteure auf die Digitalisierung im deutschen Apothekenmarkt keinesfalls unterschätzen. Zum Beispiel kam irgendwann jeman auf die Idee, Touchbildschirme für Apotheken einzuführen – zu einer Zeit, in der sich Apothekenmitarbeiter gerade an das Arbeiten mit Maus und Tastatur gewöhnt hatten. Damals wurde immer wiederholt, dass das Arbeiten mit Touchscreen die Zukunft sei, woran anfangs noch niemand glauben wollte. Aber die Gläubigen wurden immer mehr. Und heute gibt es kaum noch eine Apotheke, in der die Kassen nicht mit dem Touchmonitor bedient werden.

Ähnlich ist es mit der Digitalisierung der Apotheke ganz allgemein. Man kann hierzu schlichtweg nicht nicht kommunizieren. Selbst das Schweigen zur Digitalisierung ist eine eindeutige Aussage. Organisationen, die keinen konstruktiven Beitrag zum Thema Digitalisierung leisten, versäumen die Gelegenheit, ein komplexes System, welches gerade entsteht, mitzugestalten. Man kann Digitalisierung gut oder schlecht finden – und selbst ich erkenne darin mindestens genau so viele Licht- wie Schattenseiten – aber die Digitalisierung wird nicht mehr verschwinden.

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Schweigen wird nicht die Antworten auf die Fragen liefern, vor die uns die Digitalisierung stellt

Da aber die Digitalisierung ein chaotisches System zweiter Ordnung ist, liegt jedoch die eindeutige Handlungsaufforderung auf der Hand: man muss über die Chancen – für Patienten genauso wie für die Apotheken – sprechen, und zwar immer und immer wieder. Und was die Risiken betrifft: natürlich sollte man diese nicht leichtfertig ignorieren. Man muss sie kennen. Aber man sollte sich von ihnen nicht lähmen lassen. Alles, was gehackt werden kann, wird früher oder später auch gehackt werden. Man ist gut beraten, in seinen Geschäftsmodellen einige Rücklagen für die zu erwartenden Rückschläge einzuplanen.

Letzten Endes geht die destruktive Kraft niemals von der neuen Technologie aus. Sondern von uns Menschen. Die medizinische und gesundheitliche Entwicklung der letzten Jahrhunderte kann mit Hilfe der Digitalisierung weiter voran getrieben werden. Hierzu braucht es Menschen, die diese verantwortungsvolle Aufgabe annehmen und den bisherigen Fortschritt mit den richtigen Werten ausstatten – damit all die Auguren, die ein Ende der Arzneimittelversorgung vorhersagen, nicht Recht behalten!