Oh, wie schön ist … Kanada!

Meine Frau ist Kanadierin. Momentan ist ihre Mutter – meine Schwiegermutter – zu Besuch. Ein Gespräch beim Abendessen kürzlich drehte sich um einen Arztbesuch, der bei ihr nach der Rückkehr ansteht. Wie die meisten Menschen hat auch sie eine Krankengeschichte, die für künftige Diagnosen und Therapien berücksichtig werden sollte. Ich war perplex, als sie mir erzählte, dass sie all diese Informationen stets in ihrer elektronischen Patientenakte dabei hat.

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Drei Viertel der Hausärzte in Kanada erfassen Patienteninformationen inzwischen elektronisch

Wie praktisch das sei, erzählte sie weiter, da sie jetzt ja nicht mehr bei jedem neuen Arzt erneut ihre ganze Historie wiederholen müsse. Außerdem wisse sie ja nicht, welche Informationen relevant seien und welche nicht – deswegen schalte sie stets jedem Arzt und auch jedem Apotheker den kompletten Zugriff auf ihr Dossier frei. Datenschutzbedenken habe sie zwar grundsätzlich schon, aber das ganze werde ja von Santé Canada (bzw. Health Canada – dem kanadischen Gesundheitsministerium) überwacht. Außerdem haben Ärzte, Apotheker und alle weiteren sog. Berufsgeheimnisträger in Kanada eine Verschwiegenheitspflicht, wie wir sie auch in Deutschland kennen.

Im weiteren Gespräch stellten wir dann gemeinsam fest, wie rückständig Deutschland mit der Digitalisierung im Gesundheitssektor eigentlich ist – im Vergleich mit Kanada. Bei Kanada, da denken wir Deutsche an weite Landschaften, Blockhütten direkt am See oder im verschneiten Wald, Grizzlybären und vor allem an ganz viel Natur. Aber sicher nicht an nahezu flächendeckende sektorenübergreifend eingeführte und betriebene elektronische Patientenakten. Deutschland hingegen wird im Ausland gerne als technologisch führend, modern und innovativ gesehen. Bei uns wird aber der Arztbrief immer noch auf Papier ausgedruckt, in ein Kuvert gesteckt und dann dem Patienten mitgegeben. Der wird ihn dann schon dem Hausarzt aushändigen. Hoffentlich. Wie viele Informationen, die für eine schnelle und vollständige Genesung eines jeden Patienten notwendig wären, alleine dadurch bei uns auf der Strecke bleiben, bedarf keiner weiteren Ausführung

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Das Parlamentsgebäude in Ottawa, der Hauptstadt Kanadas

Die weiteren Hintergründen zur Patientenakte musste ich dann selbst recherchieren. Hierzu wurde ich schnell auf der Seite von Germany Trade and Invest fündig. Zunächst fiel mir auf, mit welch hohen Milliardenbeträgen die öffentliche Hand in Kanada Investitionen im Bereich eHealth tätigt. Der Fokus liegt dabei auf der Digitalisierung von Krankenakten, der Vernetzung von Gesundheitseinrichtungen und der Entwicklung von telemedizinischen Softwareapplikationen. Die elektronische Krankenakte („Electronic Medical Record“) wird forciert und schon fast flächendeckend eingesetzt: landesweit haben rund 260.000 Ärzte, Klinikmitarbeiter und Apotheker Zugriff auf die Datensätze – das entspricht etwa der Hälfte aller Akteure im kanadischen Gesundheitssektor. Drei Viertel aller Hausärzte erfassen zudem ihre Patienteninformationen inzwischen bereits elektronisch.

Und auch die Vernetzung ist ein Riesenthema. Neben den Leistungserbringern werden in Kanada auch medizintechnische Geräte samt den von ihnen erfassten Daten und medizinische Infrastruktur in die Vernetzung mit einbezogen. Statt Internet of Things wird hier schon vom „Internet of Healthcare Things“ (IOHT) gesprochen. Zusätzlich zur Vernetzung als Synonym für den Austausch von patientenbezogenen Informationen spielt auch die Prozessoptimierung eine große Rolle. Erstaunt las ich vom Humble River Hospital in Toronto, in dem ein zentrales Robotersystem die individuellen Dosen für die Patienten zusammenstellt. Fahrerlose Transportfahrzeuge liefern diese dann an das Pflegepersonal, welches wiederum die Medikamente an die Patienten verteilt.

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Autonomes Verteilen von Arzneimitteln im Krankenhaus – läuft in Toronto!

Die Landschaft der öffentlichen Apotheken kenne ich aus eigener Erfahrung ganz gut, da wir regelmäßig die Familie meiner Frau dort besuchen. Natürlich kann ich nie meine „berufliche Brille“ ablegen, wenn ich eine Apotheke betrete, so dass ich immer versuche, hinter die Kulissen zu blicken. Wie in Deutschland stehen die Apotheken auch in Kanada unter Selbstverwaltung, mit einem Dachverband, der NAPRA (oder ANORP auf französisch) und darunter den regionalen Verbänden in den einzelnen Provinzen. Ähnlich den USA gibt es auch in Kanada viele Ketten-Apotheken in Fremdbesitz – aber auch eine Vielzahl inhabergeführter, teils komplett unabhängiger Apotheken. Die meisten sind in sog. „Franchises“ organisiert, was in etwa unseren Kooperationen entspricht. Auffällig ist dabei die enorme Sortimentsbreite (z.B. Parfum, Spielwaren, Papierwaren) der meisten Apotheken. Ja, als Europäer fühlt man sich dabei oft eher wie im Supermarkt – aber fragen Sie mal einen Nordamerikaner, wie er sich in kontinentaleuropäischen Apotheken fühlt. Lediglich verschreibungspflichtige Arzneimittel werden am RX-Schalter von pharmazeutischem Personal (tablettengenau) dispensiert und inklusive Beratung abgebeben. OTC-Artikel hingegen können die Kunden aus den Regalen selbst entnehmen.

Bei einem meiner letzten Besuche habe ich mich mit einer Apothekengruppierung etwas näher auseinandergesetzt: Familiprix. Diese sind sämtlich inhabergeführt, haben aber einen einheitlichen Außen- und Markenauftritt und sehen so für den Laien doch eher nach Kette aus. Und jetzt schließen wir den Kreis zur eingangs erwähnten elektronischen Patientenakte – schauen Sie bitte, was man direkt auf der Homepage von Familiprix (hier ein Screenshot vom 09.08.2018) findet:

Familiprix

Digitale Service-Angebote auf der Homepage einer Apothekenkooperation in Kanada; Bild: (C) Familiprix 2018

Neben der Vereinbarung von Terminen zur Beratung (linker roter Kreis: Rauchentwöhnung, Diabetes, Bluthochdruck uvm.) werden auf der Homepage Behandlungstermine (mittlerer roter Kreis: „nursing services“ – Impfen, Blutprobe, uvm.) angeboten. Der grüne Kasten „My Health Profile“ – ganz rechts – schließlich ist der direkte Link zur elektronischen Patientenakte. Hier lassen sich Folgeverordnungen über „Renew a Prescription“ anfordern und mit der Funktion „Transfer My Health Profile“ kann man sogar dem Apotheker seines Vertrauens den Zugriff auf die eigene Gesundheitsakte geben. Ein Chat mit dem Apotheker – im blauen unteren Bereich „Ask a pharmacist“ – ist da schon fast banal … oder selbstverständlich?

Zu Beginn des Jahres 2018 habe ich in einem Beitrag meine Vision des Apothekerberufs in der Zukunft veröffenticht. Nun stelle ich jetzt fest: Kanada ist mit der Umsetzung von vielen, wie ich finde naheliegenden, Themen schon sehr weit. Und sowohl das Beispiel Familiprix, als auch die explizite Erwähnung von Apotheken in dem Artikel auf German Trade and Invest zeigen mir, dass sie dabei nicht nur passiv Beteiligte, sondern aktive Mitgestalter der Digitalisierung sind. Wie sie das gemacht haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber vielleicht würde es sich ja gerade deswegen lohnen, eine Delegation von Apothekervertretern zur NAPRA zu entsenden … oder mit der Leitung Ihrer Kooperation einen Besuch bei der Zentrale von Familiprix zu vereinbaren. Ich habe den Eindruck, dass man da Vieles gut kopieren oder adaptieren kann … dann braucht man es nicht schlecht selbst zu erfinden.

autumn-1764276_1920Beeilen Sie sich aber bitte mit Ihrer Reiseplanung! Die schönste Reisezeit steht nämlich kurz bevor: der „Indian Summer“ (Altweibersommer) jeden Herbst im Osten Kanadas – und auch die Digitalisierung wird auf beiden Seiten des Teichs weiter fortschreiten und nicht auf jeden warten.