Gedanken zu Securpharm

Stellen Sie sich vor, Sie würden in einem Reihenhaus wohnen. Während Ihr eigenes Haus gut ausgestattet ist und über eine Alarmanlage sowie automatische Rolläden verfügt, hat Ihr Nachbar all dies nicht und muss seinen Rolladen sogar per Hand bedienen. Einbrecher haben es bei ihm also leichter, während sie bei Ihnen nicht hineinkommen würden.

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Reihenhaussiedlung aus einem Bauträger-Katalog

In meiner Metapher ist Deutschland das gut ausgestattete Haus, was die Arzneimittelsicherheit betrifft. Laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist die Zahl der identifizierten Fälschungen in öffentlichen Apotheken in Deutschland gering. Aber auch in Europa haben wir – wie im Reihenhaus – Nachbarn, die nicht so gut ausgestattet sind. Laut der European Medicines Agency (EMA), werden im gesamteuropäischen Kontext Arzneimittelfälschungen als Bedrohung („threat“) eingestuft. Bei einem gefälschten Arzneimittel, das einmal seinen Weg in den europäischen Rechtsraum gefunden hat, ist das Risiko enorm, dass es auch innerhalb der EU an einem beliebigen Ort auftauchen kann. Fast, als würde der Einbrecher, der in das schlecht gesicherte Haus in der Häuserzeile einbricht, dann alle Wohnungen leerräumen können.

Lassen wir jetzt aber die Welt der Reihenhäuser hinter uns und sprechen wir kurz über Arzneimittelfälschungen. Diese sind vor allem deswegen so gefährlich, weil die Angaben zur Identität, zu den Inhaltsstoffen und/oder der Herkunft falsche sind. Keiner weiß also, ob das, was drauf steht, auch drin ist. Somit sind die üblichen pharmazeutischen Prüfungen, die der Sicherheit der Patienten dienen, obsolet. Und die letzte Instanz vor dem Patienten, das letzte Netz und der letzte doppelte Boden, bevor er den Wirkstoffen ausgeliefert ist, ist nun mal die Apotheke.

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Die Dosis macht das Gift – ein riskantes Spiel bei Arzneimittelfälschungen

Und so geht es am Samstag also los: ab dem 09.02.2019 sind nämlich die von der Richtlinie 2011/62/EU in Verbindung mit der Delegierten Verordnung (EU) 2016/161 zur Ergänzung der Richtlinie 2001/83/EG erfassten Humanarzneimittel mit zusätzlichen Sicherheitsmerkmalen und einer Vorrichtung zum Erkennen einer möglichen Manipulation zu versehen.

Konkret umgesetzt wird diese europaweit geltende Richtlinie, die den Schutz vor Arzneimittelfälschungen erhöhen soll, durch:

  • einen Erstöffnungsschutz, über den erkennbar ist, ob die äußere Verpackung eines Arzneimittels unversehrt ist. Verantwortlich für diesen auch „Anti Tampering Device“ genannten Schutz, der wie eine Art Siegel wirken soll, ist der jeweilige pharmazeutische Hersteller.
  • ein individuelles Erkennungsmerkmal, das jede Packung zum Unikat und über den enthaltenen Produktcode eindeutig identifizierbar macht. Abgebildet wird dieses auch „Unique Identifier“ genannte Merkmal in einem sog. „Data Matrix Code,“ der neben der Pharmazentralnummer der Packung auch das Verfallsdatum, die Chargenbezeichnung und in den meisten europäischen Ländern die GTIN (Global Trade Item Number) enthält.
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Ist das „Siegel“ unbeschädigt? Eines von zwei Sicherheitsmerkmalen

Die abgebende Apotheke muss also prüfen, ob die Arzneimittel in einer unversehrten Packung geliefert und abgegeben werden; außerdem muss der Data Matrix Code beim Warenein- und -ausgang gescannt werden. Dabei werden, vereinfacht dargestellt, die Informationen der Arznei mit einem zentralen System abgeglichen und verifziert, dass das Arzneimittel auch vom Hersteller bereits als korrekt in den Verkehr gebracht gemeldet wurde. Für diese Nachverfolgung der gesamten Lieferkette würde man, wenn dieser Prozess heute neu aufgesetzt würde, sicherlich auch über die Blockchain-Technologie sprechen müssen, da sich diese auf den ersten Blick bestens für die beschriebenen Verifizierungen eignet.

Die Umsetzung in Deutschland erfolgt mit Hilfe der Initiative securPharm e.V. In anderen europäischen Ländern ist Securpharm übrigens kein gängiger Begriff. Zwar ist Securpharm in Deutschland als Synonym für die Umsetzung der Arzneimittelfälschungssicherheitsrichtlinie in Fachkreisen gemeinhin bekannt, für unsere europäischen Nachbarn ist das jedoch allenfalls der Name eines eingetragenen Vereins … und davon haben wir in Deutschland ja bekanntlich eine ganze Menge.

Securpharm ist eine Ausprägung der Digitalisierung. Über vernetzte Systeme werden Artikel, in diesem Fall Arzneimittel, beim Inverkehrbringen durch den Hersteller registriert und bei der Abgabe an den Endverbraucher, aus dem (digitalen) System genommen. Wird derselbe, eindeutig identifizierte Artikel erneut an das System gemeldet, ist klar, dass es sich um eine Fälschung handeln muss.

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Schema für Kommunikation über die Cloud; ähnlich funktioniert auch Securpharm

Letzte Woche habe ich mich mit dem Entwicklungsgeschäftsführer eines der großen Apothekenwarenwirtschaftsanbieter unterhalten. Dabei sprachen wir auch über den sog. „Securpharm-Krisengipfel“ bei Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, über den apotheke-adhoc berichtet hat. Vor allem die Vielzahl der Kommentare unter diesem Artikel hat uns beide überrascht. Wir waren uns einig: all diese Fragen, die – völlig zurecht – in den Kommentaren aufgeworfen werden, werden auch garantiert in den nächsten Tagen bei den Hotlines aller Wawi-Hersteller aufschlagen.

Was mich zu folgendem Fazit bringt:

  1. Securpharm bzw. die Arzneimittelfälschungssicherheit sind Themen, die nur im europäischen Kontext sinnvoll gelöst werden können. Ansonsten gibt es zu viele geheime Einfalltüren für gefälschte und unsichere Arzneimittel. Der Ansatz ist also grundsätzlich aus Verbraucher- und Patientensicht zu begrüßen.
  2. Über die Art der Umsetzung wird man immer diskutieren können. Allerdings wissen wir in Deutschland vermutlich noch nicht einmal, welchen Komfort die deutschen Apotheken im Vergleich zu ihren Kollegen anderswo genießen: bei uns ist Securpharm komplett in die Warenwirtschaft integriert. Die grundsätzlichen Abläufe und Prozesse bleiben dadurch erst einmal gleich. Nur innerhalb dieses Kontextes wird es evtl. ein gewisses „Mehr“ an Aufwand geben. In den meisten anderen Ländern muss für die Verifizerung der Arzneimittel außerhalb der Warenwirtschaft mit einem separaten Gerät gescannt und die Rückmeldung abgewartet werden. Dokumentation und Information erfolgen also außerhalb des Apothekensystems. Eine Hotline, die – wie bei uns – sowohl Warenwirtschaft als auch die Authentifierungswege kennt, gibt es dort nicht. Der Mehraufwand bei unseren Nachbarn wird also deutlich höher sein als hierzulande.
  3. Wie so oft ist bei digitalen Lösungen nicht die Technik das Problem. Auch die Umsetzung von Securpharm droht nicht an den IT-Anbietern zu scheitern. Vielmehr zeigen die aktuelle Diskussion und vor allem die Kommentare auf adhoc, dass hier vor allem eines von sämtlichen Beteiligten sträflich vernachlässigt wurde: die Kommunikation! Die Vorteile werden nicht in den Vordergrund gestellt. Vielmehr liest man überall zuerst mal von der EU-Norm, die man umsetzen müsste. Dabei sollte auch hier, wie bei jeder Kommunikation, das „cui bono“ betont werden. Sonst gehen alle Beteiligte auch nur mit einer „naja, wir müssen ja“ – Mentalität an die Sache heran. Hilfreich ist diese Einstellung aber nicht, denn wir wissen spätestens seit Veröffentlichung der EU-Richtlinie im Jahr 2011, dass es kommen wird.

cup-1009225_1920Noch haben wir aber die Chance, mit unserem Securpharm-System einen europäischen Standard „Made in Germany“ zu etablieren. Wenn wir dadurch unseren Nachbarn helfen, Ihr Haus der Arzneimittelversorgung sicherer zu machen, dann sollten wir es unbedingt tun. Denn wer weiß, wann wir das nächste Mal bei ihnen zum Café au lait, zum Cappuccino oder zum five-o’clock-tea zu Gast sein werden. Und spätestens dann wollen wir uns doch sicher sein, dass der Süßstoff auch wirklich Süßstoff ist, oder?