Glaubenssätze

Ich bin Volljurist. Nach 9 Semestern Studiums der Rechtswissenschaften an der Universität Augsburg habe ich 1999 mein Erstes Juristisches Staatsexamen mit der Note „befriedigend“ abgeschlossen. Für Nichtjuristen: damit hätte ich mich gemäß der damaligen Promotionsordnung sogar auf eine Doktorandenstelle bewerben können … war also gar nicht so schlecht. Aber ich wollte weg von der Uni, habe mein Referendariat zügig durchgezogen und dann 2001 mit dem Zweiten Staatsexamen diese Ausbildung auch abgeschlossen.

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… so in etwa sah das aus damals …

Ich bin Volljurist – auch wenn ich seitdem nicht einen Tag in einem juristischen Beruf gearbeitet habe. Aber natürlich habe ich über einen langen Zeitraum gelernt, Gesetze und Verträge zu lesen und war stets der Meinung, dass ich dadurch irgendeine Art von Expertise oder meinetwegen auch Hoheitswissen hätte. Irgendwann, nach vielen Jahren in Support und Vertrieb meiner damaligen Arbeitgeber, gab es dann diesen einen Kollegen. Er war für Verträge zuständig, ohne dass er Jura studiert hätte. Und dieser Kollege wagte es dann, mir bei juristischen Fragen zu widersprechen. Mir, dem Volljuristen – das geht doch gar nicht! Was habe ich mich da immer aufgeregt und manchmal sogar richtig mit ihm in die Haare gekriegt!

Und doch ging es – und er hatte sogar meistens Recht. Im Gegensatz zu mir, der durch mühsame akademische Übungen ein theoretisches Wissen erworben hatte, kannte er die Praxis: welcher Richter legt welche Verträge wie aus? Auf welche Vergleiche lassen sich gegnerische Anwälte ein? Wann lohnt es sich, eine Klage bis zum Ende durchzuziehen? Was mir da passiert ist, ist leicht zu erklären: ich bin einem Glaubenssatz aufgesessen. Ich konnte nicht akzeptieren, dass jemand ohne meinen Hintergrund, der nicht durch dieselben, in der Tat äußerst harten Examensprüfungen gehen musste wie ich, mir in meinem Fachgebiet überlegen sein konnte. Und doch war er es, weil er es einfach jeden Tag getan hat.

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Etwas zu tun, so regelmäßig wie die Tageszeitung, übertrifft so manche akademische Trockenübung

Und inzwischen mehren sich die Zeichen, dass in Zukunft immer größere Teile des Anwaltsberufs sogar von Computern abgenommen werden: eine auf die Analyse von Verträgen spezialisierte künstliche Intelligenz (KI) hat bereits letztes Jahr eine Reihe von Top Anwälten in den USA bei der Untersuchung von Vertraulichkeitsvereinbarungen geschlagen. Noch gehen die Anwälte, die an dem Experiment teilgenommen haben, davon aus, dass die KI Anwälte in Zukunft nicht ersetzen wird. Aber entsprechende Tools könnten ihnen Arbeit abnehmen und Freiräume für die Beratung oder kompliziertere Aufgaben schaffen. Beispielsweise könnten die Algorithmen wichtige Passagen in Dokumenten markieren, die sich die Anwälte dann genauer anschauen könnten. Aber ist das nicht ebenfalls nur ein Glaubenssatz der betroffenen und düpierten Juristen?

Schauen wir uns hierzu kurz an, was genau unter einem Algorithmus zu verstehen ist. Yuval Noah Harari beschreibt ihn in seinem (unbedingt zu empfehlenden) Buch „Homo Deus“ als eine methodische Abfolge von Schritten, mit denen Berechnungen durchgeführt, Probleme gelöst und Entscheidungen getroffen werden können. Dabei sei der Algorithmus niemals eine bestimmte Berechnung, sondern lediglich die bei der Berechnung angewendete Methode. Als Beispiele nennt Harari u.a. mathematische Berechnungen, Kochrezepte oder Kaffeemaschinen. Aber auch menschliche Gedankenprozesse und sogar Emotionen folgen einer methodischen Abfolge von Schritten – und seien letztlich nichts weiter als „biologische Algorithmen.“abacus-654358_1920

Sind also Anwälte tatsächlich unverzichtbar und werden für alle Zeit ein unabhängiges Organ der Rechtsprechung sein? Oder ist das eben zitierte Beispiel mit der KI, die Vertraulichkeitsvereinbarungen besser analysieren kann als Top-Anwälte, nur der Anfang? Wenn die Performance der Computer auch weiterhin exponentiell besser wird (das Moore’sche Gesetz lässt grüßen), warum sollten dann in einigen Jahren nicht auch komplexe Rechtsfälle von einer immer mächtigeren KI besser – und letztlich sogar gerechter – beurteilt werden als von Menschen? Eine KI hat keine eigenen Vorurteile oder Erfahrungen, die ein Urteil beeinflussen könnten. Ihr Algorithmus wird, wenn er fehlerfrei programmiert ist, nicht von Außeneinflüssen oder gar schlechter Laune in die eine oder andere Richtung bewegt.

Aber genug von Juristen und Anwälten. Hier geht es ja um einen anderen freien Beruf: den des Apothekers. Ich hoffe, es gelingt Ihnen, die Erfahrungen, die ich als Jurist gemacht habe, auf Ihren Beruf anzuwenden. Und machen wir uns dabei bitte nichts vor: das Meiste von dem, was heute in der Apotheke passiert, können Computer auch schon. Von der pharmazeutischen Beratung (Algorithmen, die in einer vorgegebenen Reihenfolge Informationen vom Patienten erfragen und mit Arzneimitteln, Unverträglichkeiten und weiteren Rahmenparametern abgleichen) über die Ausgabe von Arzneimitteln (kann von Robotern und Automaten effizienter und günstiger übernommen werden) bis hin zu Securpharm (der erste Schritt zum computergestützen Vier-Augen-Prinzip) – wir befinden uns schon mittendrin in der Abschaffung des Apothekerberufs, wie wir ihn kennen gelernt haben.

Oder ist auch das wieder nur ein Glaubenssatz? Wird der Apothekerberuf denn gerade tatsächlich abgeschafft – oder „nur“ neu erfunden? Und wer gestaltet diese Neuerfindung denn mit? Jemand, der Glaubenssätze mit sich herumträgt, oder jemand, dessen Blick frei für Kundenbedürfnisse ist und der diejenigen Innovationen erkennt, die der Befriedigung dieser Kundenbedürfnisse zuträglich sind? Der – Gott bewahre – sogar täglich mit den Kunden kommuniziert und ihre Bedürfnisse bestens kennt und versteht?

Wir alle wären gerne in unserem Beruf unverzichtbar. In dem Moment, in dem wir uns radikal von dem Glaubenssatz befreit haben, unverzichtbar zu sein, wird der Blick frei für das Neue. Und mir persönlich wäre es lieber, dass diese Neugestaltung des Apothekerberufs von innen heraus geschieht – und nicht von außen über unsere gesamte Branche gestülpt wird. Wenn uns das gelingt, können wir die Werte bewahren, die uns wichtig sind, und bleiben – wenn auch nicht faktisch – so doch zumindest unverzichtbar in der Wertschätzung unserer Kunden.