Gültig seit über 120 Jahren: ein erneuter Blick auf das Moore’sche Gesetz

In einem meiner allersten Blogbeiträge habe ich über das Moore’sche Gesetz geschrieben, benannt nach Gordon Moore, einem der Mitbegründer von Intel. Im Jahr 1965 hat er in einem Artikel die Beobachtung notiert, dass sich die Zahl der Komponenten in einem integrierten Schaltkreis seit deren Erfindung im Jahr 1958 regelmäßig verdoppelt hatte. Anders ausgedrückt: alle zwei Jahre verdoppelt sich die Leistungsfähigkeit von Computern. Spätestens seit Corona wissen wir alle, was eine Verdoppelung in immer gleichen Zeiträumen bedeutet: ja, es handelt sich um exponentielles Wachstum!

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Typische exponentielle Wachstumskurve. Hier: Verdoppelung des Ausgangswertes 1 in 38 Zyklen

Die Auffassung, dass sich das Moore’sche Gesetz alleine auf die immer besser werdende Computerleistung beizeht, ist weit verbreitet. Uns allen ist irgendwie bewusst, dass Computerchips ihre Komplexität zu nahezu konstanten Stückkosten immer schneller erhöhen. Aber was, wenn es sich dabei nur um eine von vielen Möglichkeiten der Lesart von Moores Gesetz handelt? Was, wenn es nicht ausschließlich für Chiphersteller wie Intel gilt?

In seinem erstmals 1999 erschienenen Buch The Age of Spiritual Machines“ [auf Deutsch: „Die Intelligenz der Evolution„] zeigt der US-amerikanische Autor, Erfinder, Futurist und Director of Engineering bei Google, Ray Kurzweil, die Berechnungen pro Sekunde auf, die man für einen Dollar kaufen kann. Bereinigt um die Inflation über einen langen Zeitraum. Und auf einmal wird deutlich, dass die Rechenleistung seit über 120 Jahren einer glatten, exponentiellen Kurve folgt. Seitdem es Daten in irgendeiner Art von Rechenmaschine gibt, kann man eine gerade Linie auf auf einer logarithmischen Skala ziehen: die Jahreszahl auf der X-Achse sowie die Rechenleistung pro Dollar auf der Y-Achse.

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Die 120-Jahres-Variante des Moore’schen Gesetz; eine exponentielle Kurve, hier logarithmisch dargestellt

Und auf einmal ist Moores Gesetz nicht länger transistorzentriert. Besser noch: diese Abstraktion ermöglicht eine längerfristige Analyse. Was Gordon Moore, ein Pionier der frühen Computerindustrie, beobachtete, war nichts weiter als ein Ausschnitt eines längerfristigen Trends, der sogar philosophische Fragen aufwirft. Dieser Trend wurde auch von fünf grundlegenden Technologiewechseln (von niedrigen elektromechanischen Taschenrechnern über Relais, Vakuumröhren, Transistoren bis hin zu integrierten Schaltkreisen, s.o. Abbildung) nicht unterbrochen. Er hat die Rechenleistung, die man sich für einen Dollar kaufen kann, über 120 Jahre lang korrekt vorhergesagt.

Jeder Punkt auf dieser Linie (eigentlich ist es eine exponentielle Kurve!) befindet sich am oberen Ende der rechnerischen Leistung seiner jeweiligen Zeit. Bei der Volkszählung, dem United States Census von 1890, wurde eine Lochkarten-Maschine verwendet; die von der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg eingesetzte Chiffriermaschine „Enigma“ wurde von der elektromechanischen sog. „Turing Bombe“ geknackt; und ein Vakuumröhrencomputer sagte den Sieg von Dwight D. Eisenhower bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 1956 voraus. Selbst bei einer Aktualisierung des Diagramms für die Zeit nach der Veröffentlichung des Buches kann man schnell feststellen, dass die neuesten Prozessoren und insbesondere Grafikchips wie der NVIDIA GPU sich ebenfalls auf genau dieser Fortschrittskurve befinden – bis heute.

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Detailaufnahme einer Enigma-Chiffriermaschine

Aber weg von den technischen Details und zurück zur Linie: jeder Punkt, jede Maschine auf ihr steht für Meilensteine im Fortschritt und häufig auch für menschliche Dramen. Vor dem Moore’schen Gesetz, das wie eingangs erwähnt erstmals 1965 formuliert wurde, wusste wohl keiner der Menschen auf der Kurve, dass sie sich tatsächlich auf einer solchen befanden. Dieses Innovationstempo wirkt allerdings inzwischen schon seit über 120 Jahren von außen auf die Wirtschaft ein und fördert sie dabei. Überlegen Sie, was in dieser Zeit alles passiert ist:  die Weltwirtschaftskrise, der Erste Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg und etliche Rezessionen – nichts davon hat die langfristige Entwicklung von Moores Gesetz bremsen können. Gewiss gab es Schwankungen bei den Anpassungsgeschwindigkeiten, Einnahmen, Gewinnen und wirtschaftlichen Schicksalen der Computerunternehmen, die sich hinter den verschiedenen Punkten verbergen. Um die geht es aber nicht, sondern um die langfristigen Trends. Und diese Trends sind eindeutig und glasklar.

Nun befinden wir uns in einer Zeit des konstanten Wandels, der Disruption. In der Technologiebranche ist es schwierig, einen Fünf-Jahres-Trend präzise vorherzusagen, geschweige denn einen Trend, der Jahrhunderte umfasst. Könnte es also sein, dass die Linie aus dem Buch von Ray Kurzweil sogar einer der wichtigste Graphen ist, die jemals konzipiert wurden?

Immerhin hängt eine große – und wachsende – Anzahl an Branchen von anhaltenden exponentiellen Kostenrückgängen bei Rechenleistung und Speicherkapazität ab. Das Moore’sche Gesetz treibt die Hersteller von Elektronik, Kommunikation und Computern vor sich her. Informationstechnologie wird zunehmend zu dem Haupttreiber in den Bereichen Arzneimittel-Wirkstoffforschung, Biotechnologie, Bioinformatik, medizinische Bildgebung und Diagnostik. Sobald also Moores Gesetz kritische Grenzwerte überschreitet, kann sich eine bis dahin auf Versuch und Irrtum gegründete Laborwissenschaft hin zu einer Wissenschaft der Simulationsrechnung wandeln. Und das Tempo genau dieses Fortschritts beschleunigt sich dramatisch – oder halt exponentiell …

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Informationstechnologie ist der größte Treiber der Weltwirtschaft

Ein Beispiel zu Verdeutlichung: Airbus baut Flugzeuge. Früher wurde die Konstruktionsleistung anhand von Modellflugzeugen in Windkanälen getestet. Seitdem Computer leistungsfähig genug sind, um die Strömungsmechanik exakt zu simulieren, können neue Flugzeugtypem im schnellen Tempo von iterativen Simulationen entwickelt werden. Windkanäle liegen brach oder werden für Bodyflying und andere Fun-Sport-Arten umgewidmet. Der letzte Flugzeugtyp, dessen Design noch im Windkanal getestet wurde, war die Boeing 777. Der Luftfahrt-Ingenieur von heute sitzt einfach an seinem Schreibtisch – und das nicht nur in Zeiten des Homeoffices. Ähnlich wird es sein mit der Forschung an neuen Arzneimitteln. Auch hier steht eine Verschiebung unmittelbar bevor. Immer weniger wird in Laboren und klinischen Tests stattfinden und immer größere Anteile werden vorab von Hochleistungsrechnern, unterstützt von künstlicher Intelligenz, simuliert werden.

Früher oder später wird jede Branche zu einem Daten- und Informationsgeschäft werden. Jede Branche. Was denken Sie, wird Ihnen ein Landwirt in 20 Jahren sagen, wenn Sie ihn fragen, wie er wettbewerbsfähig bleibt? Natürlich wird das vor allem davon abhängen, wie er Informationen aus Satellitenbildern verwertet. Damit bewirtschaftet er sein von Automaten und Robotern bestelltes Feld und optimiert den Code. Nämlich den Programmcode in seinen Samen: der genetische Code. Manuelle Verarbeitung oder gar Handarbeit wird nur noch einen geringen Teil seiner Arbeit ausmachen. Ähnlich wird es sich in jeder Branche etablieren. Informationstechnologie durchzieht die globale Wirtschaft und macht sie zu einer Art neuronalem Netzwerk.Apotheke ERezept Coronavirus Digitalisierung Netzwerk Welt GlobalisierungKommen wir zum philosophischen Teil: „Warum?“ Warum hält dieser Trend 120 Jahre lang an? Offensichtlich hat er nichts mit der Halbleiterindustrie zu tun. Unser aktuelles Tempo bedingt jedoch unausweichlich, dass wir uns ständig weiterentwickeln. Wir machen permanent Fortschritte. Wie kann das nur sein?

Alle neuen Technologien sind Kombinationen bereits existierender Technologien, Rekombinationen früherer Ideen sozusagen. Innovation findet niemals im luftleeren Raum statt. Wenn man jedoch nahezu beliebig Ideen aus früheren Zeiten miteinander kombinieren kann, ist es ein wenig so, als würde man – wie es im englischen Sprachraum heisst – auf den Schultern von Giganten stehen. Egal, um welchen akademischen Bereich es sich handelt, stets werden die Fortschritte von heute auf einem großen Fundament zurückliegender Erfahrungen und Erfindungen gebaut. So ist auch erklärbar, dass wichtige Innovationen oftmals zur gleichen Zeit reif sind und dann von mehreren Personen auch nahezu gleichzeitig entdeckt werden. Denken Sie nur an Louis Pasteur und Robert Koch, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit nur kurzem zeitlichen Abstand zueinander Mikroben als Erreger gefährlicher Krankheiten beschrieben haben.

Fortschritt basiert auf der richtigen Zusammenstellung der richtigen Ideen. Vor dem Zeitalter der Wissenschaft war man meist auf Zufallsfunde angewiesen. Durch die Wissenschaft wurden die Prozesse für Innovation jedoch grundlegend optimiert. Durch wissenschaftliche Methodik wurde der größte Fortschritt in der Geschichte der Menschheit erst möglich: das gezielte Sammeln von Wissen, der fundierte Vergleich von Ergebnissen, Falsifizerung, Verifizierung und all das unabhängig von der politischen Stimmung – auf dieser konzeptionellen Grundlage basieren Wirtschaftswachstum und technologischer Wandel bis heute.

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Fortschritt gleicht einem großen Getriebe – angetrieben von unseren Ideen, unserer Neugier und unserem Wissen

Fügt man dem nun noch neue Ideen und neues Gedankengut hinzu, gibt es immer mehr mögliche Kombinationen und Ergebnisse. Die Erfolgswahrscheinlichkeit steigt. Das erklärt die Innovationskraft unserer modernen Lebensweise durch die Errungenschaften einer vernetzten und globalisierten Welt. Es erklärt auch, warum interdisziplinäre Ideen so viel disruptiver sind als solche, die nur aus dem Inneren einer Branche stammen. Für disuptive und innovative Ideen sind gemischt disziplinäre Teams der beste Ausgangspunkt, um die Mauern innerhalb akademischer Disziplinen einzureißen. Und je mehr Fachrichtungen beteiligt sind, umso höher ist wiederum die Zahl möglicher Innovationskombinationen.

In den letzten beiden Jahrzehnten haben wir zusätzlich noch die Auswirkung eines weiteren neuen Faktors zu verstehen gelernt: das Internet. Menschen können heute Ideen austauschen wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Das Kategorisieren und Suchen, ähnlich wie bei den bereits erwähnten wissenschaftlichen Kriterien, ist dabei inklusive. Früher hingen Erfolg und Misserfolg ganzer Nationen von den Innovationen ihrer eigenen Gesellschaft ab – heute wird weltweit gemeinsam an einem Impfstoff gegen Covid-19 geforscht.

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Das Internet verbindet die ganze Welt

Durch den demografischen Wandel werden in den nächsten vier bis fünf Jahren zum ersten Mal drei Milliarden neue Köpfe ihre ersten Schritte im Internet gehen. Über günstige Smartphones und die Satellitentechnik von Unternehmen wie Starlink können sie selbst in Entwicklungsländern online gehen und sich an diesem globalen Gespräch beteiligen. Heute sind diese Menschen nur „da draußen“ und betreiben Landwirtschaft. Sie kommunizieren nicht mit dem Rest der Welt. Sie bringen die Ideen nicht ein, mit denen sie möglicherweise die globale Konversation bereichern könnten. Dieser schnelle Zustrom von drei Milliarden Menschen und ihren Gedanken und Ideen in die Weltwirtschaft ist in der Geschichte der Menschheit beispiellos. Für das Tempo des Fortschritts und der Innovationen bedeutet das einen erneuten Schub nicht versiegender Quellen.

Und für das Moore’sche Gesetz bedeutet das, dass – unabhängig von der Größe der  Computerchips – ein Abflachen seiner Kurve noch lange nicht in Sicht ist.