Für den normalen Touristen ist der Besuch einer Apotheke auf Reisen meist kein Anlass zur Freude. Vergessene oder akut benötigte Arzneimittel stehen in Widerspruch zur Erholungsabsicht, die jedem Urlaub zu Grunde liegt. Ein wenig anders ist das bei mir: da ich bis jetzt mein gesamtes Berufsleben als Nicht-Apotheker mit Apotheken verbracht habe, schwingt bei jeder ausländischen Apotheke, die ich betrete, auch immer ein wenig berufliche Neugier mit: was machen die dort anders? Was ist vergleichbar? Machen die evtl. sogar etwas besser – und ließe sich das in Deutschland dann adaptieren?
Wie bereits letze Woche berichtet, habe ich mit meiner Familie Weihnachten und den Jahreswechsel im Osten Kanadas, in der Provinz Québec, verbracht. Nach den Feiertagen erkrankte ein Familienmitglied nach dem nächsten an starker Erkältung und zeigte auch Symptome von grippalen Infekten. Somit waren wir nicht nur in mehreren Apotheken vor Ort, sondern verbrachten sogar einen kompletten Tag mit unserer mittleren Tochter in der Notaufnahme einer Uniklinik … was seine Ursache aber ebenfalls in einem Apothekenbesuch begründet hat. Aber der Reihe nach: was unterscheidet kanadische Apotheken am meisten von deutschen?
1. Der große OTC-Bereich
Betritt man eine Apotheke in Kanada – oder sonstwo in Nordamerika – so hat man des Gefühl, eine Mischung aus Douglas und dm zu betreten. Ein HV-Tisch mit pharmazeutischem Personal zur Beratung findet sich meist nur im hinteren Teil der Ladengeschäfte. Dort, und nur dort, können auch Rezepte eingelöst und verschreibungspflichtige Arzneimittel ausgeteilt werden.
Anders als bei uns, wird der Begriff „over-the-counter“ („über den Ladentisch,“ wofür das Akronym OTC eigentlich steht) in Nordamerika grundsätzlich nicht wörtlich genommen. In langen Regalreihen finden sich, ordentlich nach Kategorien sortiert, diverse Mittelchen gegen Schmerzen, Husten, Schnupfen, Muskelkater und vieles mehr – die klassische Selbstmedikation im direkten Zugriff des Kunden. Direkt daneben befindet sich in den meisten Apotheken noch eine große Parfumerie – in den Innenstadtapotheken nimmt diese meist eine komplette Etage ein, auf dem Land deutlich weniger.
Der Vorteil: man kann in Ruhe stöbern, Inhaltsstoffe oder die Preise von Eigenmarken mit Markenartikeln vergleichen und „klaut“ dabei niemandem den Beratungsplatz am HV. Durch das sehr gute Category Management findet man die Präparate für die gesuchten Indikationen auch sehr schnell.
Der Nachteil: wenn man sein Arzneimittel schnell gefunden hat, so kann es sein, dass an den Beratungsplätzen eine Warteschlange ist. Wenn man dann, wie wir, kranke Kinder im Hotelzimmer hat, verlässt man sich im Zweifel auf sein Laienwissen („das werden sie schon vertragen“) … was in unserem Fall Konsequenzen hatte.

Ein Häufchen Elend im Centre Hospitalier Universitaire de Sherbrooke
Aufgrund der Grippesymptome wollten wir nämlich ein Schmerzmittel kaufen. Das aus Deutschland mitgebrachte Nurofen mit dem Wirkstoff Ibuprofen war leer gegangen. Nun wussten wir, dass Advil auch diesen Wirkstoff enthält. Da außerdem die Nasen trieften, besorgten wir „Children’s Advil Cold,“ ein Kombipräparat mit leckerem Traubengeschmack. Unsere mittlere Tochter, die als erstes Kind erkältet war, reagierte dann jedoch auf das in diesem Arzneimittel enthaltene Pseudo-Ephedrin-Hydrochlorid sehr speziell. Sie erkannte uns nach einem Nickerchen am Vormittag nicht wieder, verkrampfte ihre Hände und war einige Minuten lang komplett abwesend. Natürlich dachten wir in dem Moment nicht an Nebenwirkungen, sondern an einen Krampfanfall und machten uns auf in die Notaufnahme, die zum Glück nur 30 Fahrminuten entfernt war. Dort, nach 3 Stunden Wartezeit, erfragte die Ärztin bei der Anamnese auch die eingenommenen Arzneimittel und konnte uns dann, nach einem ausführlichen neurologischen Check, wieder zurück ins Hotel schicken. Ihre Empfehlung: bei Kindern niemals Wirkstoffkombinationen nehmen … und genau diese Beratung kann einem in der Apotheke niemand geben, wenn man mit Arzneimitteln direkt zur Kasse durchmarschieren kann.
2. Apotheken dürfen impfen …
… und bewerben dies auch intensiv. Aus meiner Sicht liegen darin viele Vorteile. Einerseits muss man nicht im Wartezimmer einer Arztpraxis mit potentiell ansteckenden anderen Patienten darauf warten, an die Reihe zu kommen. Beim Impfen in der kanadischen Apotheke wird mit festen Terminen gearbeitet, so dass die Wartezeit gering sein sollte. Apotheken haben so die Gelegenheit, sich als Rundum-Gesundheits-Dienstleister in ihrer örtlichen Gemeinschaft zu positionieren. Gepaart mit den weiter oben beschriebenen Parfumerie-Einheiten trägt auch dies dazu bei, dass Apotheken in Kanada mit zu den beliebtesten Einzelhandelsgeschäften gehören: man fühlt sich dort wohl und gut aufgehoben.

Rechts im Bild: „Renew a prescription“ – die Folgeverordnung vom Apotheker
3. Apotheken stellen Folgeverordnungen aus
Als gut eingestellter Chroniker würde ich mir genau das auch in deutschen Apotheken wünschen! Noch muss ich jedesmal mit viel Aufwand ein Rezept in der Arztpraxis anfordern und dieses dann physisch in meine Apotheke bringen. Um wieviel könnte dieser Prozess schlanker sein, wenn Apotheken auch in Deutschland zumindest die Bestellung der Folgeverordnung beim Arzt übernehmen würden. In Kanada mit seiner zentralen Gesundheitsakte klappt das jedenfalls, wie ich auch bei diesem Besuch anschaulich feststellen konnte: meine Schwiegermutter hatte ein akutes Problem. Die dem zu Grunde liegende chronische Erkrankung wurde vor ca. 2 Jahren von einem Arzt diagnostiziert und war auch in der elektronischen Gesundheitsakte dokumentiert. Der Apotheker vor Ort durfte darauf eine Verordnung für eine Wochendosis ausstellen und abrechnen. Diese Kundenorientierung ist ebenfalls typisch für Kanada – und Nordamerika ganz allgemein.
4. Apotheken arbeiten im Verbund
Die drei großen Ketten in der Provinz Québec, Familiprix, Jean Coutu und Pharmaprix haben einen einheitlichen Auftritt nach außen, egal ob es den Verkaufsraum oder die Homepage betrifft. Und auch wenn sie als Ketten organisiert sind – Jean Coutu beispielsweise gehört zur METRO Group – so muss jede Apotheke auch dort von einem niedergelassenen, approbierten Apotheker als Inhaber geführt werden. Die Franchisegeber übernehmen lediglich einen Großteil an administrativen und Marketing-Aufgaben. Die Gesundheitsberatung bleibt jedoch stets und ohne Einflussnahme von außen in Apothekerhand. So sorgt die Marke der Kette für einen hohen Wiederkennungswert, dennoch kann sich in der jeweiligen Apotheke die Individualität des Inhabers und seiner Mitarbeiter voll entfalten.
Fazit
Apotheken in Kanada sind hervorragend organisiert und laden ihre Kunden zum Einkaufen und Verweilen ein. Die Gestaltung der Verkaufsflächen ist sicherlich nicht 1:1 auf andere Länder übertragbar, kann aber als Inspiration dienen, was bei entsprechender Fläche alles möglich ist. Sie bieten im Vergleich zu deutschen Apotheken deutlich mehr Gesundheitsdienstleistungen, die teilweise auch in den „Hoheitsbereich“ der Ärzte hineinreichen. Lediglich der zu freie und sicherlich teilweise auch unkontrollierte Zugriff auf OTC-Arzneimittel findet nicht meine uneingeschränkte Zustimmung – aufgrund der schlechten Erfahrung, die wir hiermit gemacht haben. Deutsche Apotheken sollten aber für das Recht auf Impfen und die Möglichkeit, beim Thema Folgeverordnungen eine größere Rolle zu spielen, kämpfen. Wir Patienten würden es mit Dankbarkeit und Treue vergelten.
Dass dies bei Ärzten nicht unbedingt auf offene Ohren stoßen wird, immerhin erzielen sie relevante Teile ihres Einkommens damit, liegt auf der Hand. Aber auch hier gibt es Möglichkeiten, im Sinne eines Gebens und Nehmens, die Patientenversorgung zu optimieren. Mehr dazu dann im nächsten Beitrag …
[…] wir Anfang Januar 2019 von unserer Kanada-Reise zurückkehrten, haben wir irgendwann natürlich auch die Post geöffnet, die uns während unserer […]
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Auf „das Recht auf Impfen“ bin ich derzeit als deutscher Apotheker genauso scharf wie auf eine Meningitis. Warum?
1) Vermutlich teure und zeitintensive Fortbildungen, um dieses „Service“ anbieten zu dürfen. (Ich habe etwas von zwei Blöcken a mehreren Tagen, zusammen ca. 2.000€ pro Person gelesen, das kann aber auch falsch sein.)
2) Voraussichtlich endlose Auseinandersetzungen mit Arztverbänden, die immer schlauer sind als Apotheker. (Vergleiche hierzu die regelmäßigen Äußerungen des „Berufsverband der Frauenärzte“)
3) Voraussichtlicher burokratischer Dokumentationswahnsinn.
4) Voraussichtlich äußerst schwer zu erhebende Anamnese des Patienten, da kein Zugriff auf die Krankenakte.
5) Null-Vergütung für Punkte 1-4! Die gesetzlichen Krankenversicherungen haben bereits angemerkt, dass die Vergütung des Impfens mit der Handelsspanne der Impfung – bei Grippeschutz gewöhnlich <1€ – bereits abgegolten sein wird für Apotheker.
6) Privatbezahlung durch den Kassen-Patienten, wo es das alles beim Arzt "kostenlos" gibt.
Also ist die Apotheke dann nichts weiter als besserer Lückenbüßer, wenn die Arztpraxis gerade nicht kann und/oder nicht will? Unter diesen Voraussetzungen sage ich dazu "Nein, Danke!"; defizitäre Gemeinwohlpflichten hab ich schon genug.
Gerade ist wieder so eine defizitäre Gemeinwohlpflicht dazu gekommen – SecurPharm, die unnützeste Erfindung seit der Bekanntmachung der Verbrennungsmotorkolbenrückzugfeder. Das hinter SecurPharm steckende "Sicherheitskonzept" hat ein Bekannter von mir schon vor 2 Jahren als "überholt" erklärt, und dies auch schlüssig erklärt auf ApothekeAdhoc.
Man verzeihe mir meinen Sarkasmus.
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Punkt 4 würde ich (als Patient) gerne ändern. Jeder Heilberufler soll – in meinem eigenen Interesse – bitte möglichst alles Gesundheitsrelevante von mir wissen! Die übrigen Punkte verstehe ich aus heutiger Sicht durchaus. Hier könnte sich aber bspw. die Standespolitik einbringen, so dass am Ende für jeden was bleibt und der Patient gut bedient wird. Scheint aber noch ein langer Weg zu sein … danke jedenfalls für den Kommentar!
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Ich würde mir die Änderung des Punktes 4 als Patient auch gut überlegen. Warum? Weil es dann keine zweite Meinung mehr gibt. (Das wünschen sich die gesetzlichen Krankenkassen übrigends schon länger, aber das mal wieder aus monitären Grunden, da eine „zweite Untersuchung der schon bekannten Sympthome“ dann einfach nicht mehr vergütet wird. War alles schon 2005 zur „Einführung der eGK“ in trockenen Tüchern, als man die eGK als das zu 99,9% funktionstüchtige Wunderzaubermittel der Gesundheitswirtschaft wähnte.)
Was wird passieren?
1) Ich werde behandelt, aber irgendwie wird es nicht besser.
2) Ich gehe zu einem anderen Arzt für eine Zweitmeinung.
3) Der andere Arzt schaut in meine Akte, und da er die bisherigen Diagnosen sieht, ist er automatisch (ob er will oder nicht) voreingenommen.
4) Da ihm eine „neuerliche“ Diagnose und Behandlung eh nicht bezahlt wird, sagt er im Zweifelsfall: „Der Nächste bitte!“
Diese SOP kann man als Dystopie betrachten, aber meiner Erfahrung nach wird in Deutschland alles durch Bürokraten bestimmt. Und die erledigen alle lösungsorientierten Ansätze als „Entgegen der Regel. Punkt.“
Jede Medaille hat zwei Seiten. Wer die eine Seite will, wird die andere Seite akzeptieren müssen. Auch, wenn die gewollte Seite so poliert war, dass man vor lauter Begeisterung (und Blendung) die ungewollte (verrottete) Seite nicht gesehen hat, obwohl auf JENER eben der Nennwert der Münze festgelegt ist.
Man soll immer gut überlegen, was man sich wünscht. Denn es könnte in Erfüllung gehen. 😉
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Gesunde Ernährung, gesunder Lebensstil und saubere Landschaften sind zumeist nicht pathogen! Toxische Gedanken, Lebensmittel und Umwelt sollten dagegen vermieden werden, wo imer es möglich ist.
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