Virtuelle Unsterblichkeit

Trotz allem medizinischen und technologischem Fortschritte bleibt der Mensch nach wie vor ein sterbliches Wesen. Die durchschnittliche statistische Lebenserwartung steigt zwar kontinuierlich – aber wie so oft bei Statistiken ist auch diese trügerisch. Vor 200 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung nur deshalb bei etwas über 35 Jahren, weil jedes zweite Kind vor seinem 5. Geburtstag gestorben ist. Mangelnde Hygiene und unzureichende medizinische Versorgung waren hierfür die Hauptgründe. Aber Menschen, die das Erwachsenenalter erreichten, konnten ohne weiteres 80 Jahre oder noch älter werden – ganz, wie heute auch. Aber weil es uns gelungen ist, die Kindersterblichkeit weltweit in den Griff zu bekommen, ist der Durchschnitt eben gestiegen. Die hieraus abzuleitende Aussage ist aber nicht, dass wir immer älter werden, sondern eben nur, dass mehr Kinder bis ins Erwachsenenalter überleben als früher.angel-756972_1920

Aber es gibt auch Wissenschaftler, die selbst den Tod nicht mehr als gegeben hinnehmen wollen. Durch Genmanipulationen bei Hefezellen, Fadenwürmern und Mäusen konnte deren Lebenserwartung um das bis zu sechsfache verlängert werden. Und die grundsätzliche Übertragbarkeit auf den Menschen scheint, wenn auch nicht unmittelbar aus den Experimenten übertragbar, so doch zumindest nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Könnte es also sein, dass der Tod häufig auf rein „technischem Versagen“ beruht? Herzinfarkte, Krebs oder Infektionen sind letztlich Abweichungen des tatsächlichen Gesundheitszustands von der zum Überleben notwendigen Norm. Wie für jedes technische Problem sollte es also auch dafür technische Lösungen geben, oder? Herzschrittmacher, Zytostatika und Antibiotika sind solche Lösungen. Und sie sind allesamt Errungenschaften der jüngeren Vergangenheit.

Natürlich wird kein Wissenschaftler zugeben wollen, dass er auf der Suche nach dem Schlüssel zur Unsterblichkeit ist. Aber sind wir tatsächlich so naiv zu glauben, dass es ihnen tatsächlich nur ums Verbessern von Behandlungsmethoden geht? Die Werkzeuge, die wir heute zur Verfügung haben – von Big Data über Künstliche Intelligenz bis hin zur weltweiten Vernetzung der besten Köpfe – bietet Möglichkeiten, die in ihrem Ausmaß in der Geschichte der Menschheit einzigartig und völlig neu sind. Betrachten wir doch nur einmal die medizinischen Fortschritte der letzten 100 Jahre: meinen Sie, ein Arzt aus dem Jahr 1900 hätte ernsthaft geglaubt, dass potentiell tödliche Entzündungen durch Pinselschimmel geheilt werden könnten? „Humbug!“ hätte er proklamiert … und doch hat Alexander Fleming gerade mal 28 Jahre später das Penicillin entdeckt und beschrieben.

„Ernstzunehmende Wissenschaftler mutmaßen, spätestens im Jahr 2050 könnte es die ersten nicht-sterblichen Menschen geben (also keine unsterblichen, sondern nur nicht-sterbliche Menschen, deren Leben sich immer weiter verlängern lässt, denn bei Unfällen könnten sie nach wie vor ums Leben kommen).“
Yuval Noah Harari

https://www.ynharari.com/de/topic/wissenschaft-und-religion/

Der Fortschritt im Gesundheitsbereich der letzten 100 Jahre ging rasend schnell. Und das mit Methoden, die heute anachronistisch sind. Ob es tatsächlich in 31 Jahren nicht-sterbliche Menschen geben wird, oder erst in 100 oder in 500 Jahren  – ich weiß es nicht. Ob das überhaupt erstrebenswert ist, ist nochmal eine gänzlich andere Diskussion. Unzählige, meist dystopische Romane wie zum Beispiel „Die Unsterblichen“ von Drew Magary beschäftigen sich damit – und stets sind die Auswirkungen auf die menschliche Gesellschaft dramatisch. Aber Hand aufs Herz: was würden Sie tun, wenn sie diese Möglichkeit hätten? Oder Ihre Kinder? Wieviel wären Sie bereit, dafür zu bezahlen?

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Ein Stich und Sie werden zu Peter Pan – würden Sie es tun?

Doch selbst wenn es der Wissenschaft nie gelingen sollte, die am Alterungsprozess beteiligten Gene zu identifizieren und sie alle „in Reihe“ zu deaktivieren und dadurch den nicht-sterblichen Menschen zu erschaffen, so werden viele von uns im Internet weiter leben – ob wir es wollen oder nicht. Etwas weiter geht ein Angebot, auf das ich gestossen bin und von dem ich abwechselnd fasziniert und irritiert bin, weil es die Unsterblichkeit zumindest in der virtuellen Welt verspricht: Eterni.Me

Dieses Portal wertet Ihre sämtlichen Social Media-Profile aus, sobald sie ihm Zugriff darauf gewähren. Die Algorithmen von Eterni.Me analyiseren Ihre Beiträge und Interaktionen, um ein akkurates Profil von Ihrer Persönlichkeit und Ihren Kommunikationsgewohnheiten zu erstellen. Es greift dabei auf Ihre Gedanken, Geschichten und Erinnerungen zurück, die Sie selbst im Internet hinterlassen haben. Es kuratiert sie und erstellt mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz einen Avatar, der wie Sie aussieht – und wie Sie mit seiner Umwelt interagieren soll. Dieser Avatar wird für immer leben und anderen Menschen soll dadurch in Zukunft ermöglicht werden, nicht nur auf Ihre Erinnerungen zuzugreifen, sondern „mit Ihnen“ zu interagieren – genau wie Sie sich heute schon mit einem Chatbot im Kundensupport, beispielsweise im Chat des Kundensupports bei Ikea, unterhalten.

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Ewig weiterleben als Avatar?

Natürlich zog Eterni.Me zunächst vor allem negative Aufmerksamkeit auf sich. Viele Kritiker fanden die Idee gruselig und andere hielten es für einen schlechten Scherz. Sogar Morddrohungen bekam der Gründer, ein Absolvent der MIT in Boston. Seit 2014 betreibt Eterni.Me keine Werbung, die Website ist aber nach wie vor erreichbar. Das Team hat die Algorithmen seitdem weiterentwickelt, Funktionen getestet und herausgefunden, was funktionieren wird und was nicht. Beispielsweise sollen die Avatare niemals Menschen zur Verfügung gestellt werden, die ihre Trauer noch nicht weitgehend abgeschlossen haben. Der private Beta-Test sei jedoch noch nicht abgeschlossen. Wenn es Eterni.Me tatsächlich gelingt, ein echtes digitales Erbe zu erschaffen, durch das Urenkel mit ihrem Urgroßvater interagieren könnte, so ist das zwar aus heutiger Sicht immer noch irgendwie morbide. Aber wer von uns hätte nicht gerne seine Urgroßmutter oder seinen Urgroßvater kennen gelernt?

Ich jedenfalls habe mich aus Neugier heute bei Eterni.Me registriert. In der Bestätigungsmail, die postwendend eintraf, stand, dass ich in den nächsten Monaten eine Einladung zu weiteren Schritten bekommen werde. Ob mir meine Urenkel ihre Meinung über mich persönlich geigen können oder ob mein Avatar diese dann stellvertretend für mich entgegen nehmen wird – das wird die Zukunft zeigen.