Die Lebenserwartung in Deutschland liegt laut dem Statistischen Bundesamt für Jungen derzeit bei 78,6 Jahren, für Mädchen sogar bei 83,4 Jahren. Im Mittel beider Geschlechter liegt sie somit bei 81 Jahren. Berechnet wird diese Lebenserwartung vor allem unter Zuhilfenahme der Statistik aller Sterbefälle in einem definierten Zeitraum. So können altersspezifische Sterbewahrscheinlichkeiten ermittelt werden und auf einen (hypothetischen) Geburtsjahrgang von 100 000 Neugeborenen übertragen werden. Von Altersjahr zu Altersjahr lässt sich so deren Überleben unter Berücksichtigung von durchaus validen Wahrscheinlichkeitsparametern modellieren. Daraus formt das Statistische Bundesamt eine Tabelle, die sowohl die noch verbleibende statistische Restlebenszeit für jedes bestimmte Alter als auch die Gesamtlebenserwartung bei Geburt darstellt. Auch die häufig angezweifelte Übersterblichkeit während der COVID-19-Pandemie konnte übrigens mit dieser Methode für Deutschland empirisch nachgewiesen werden. Was jedoch für Deutschland fehlt, ist der Vergleich auf regionaler Ebene. Da es in kleineren geografischen Einheiten – zum Glück! – nur wenige Sterbefälle gibt, insbesondere in jungen Altersgruppen, sind die Rohdaten in ihnen gewissen Zufallsschwankungen unterworfen. Diese Zufallsschwankungen sind umso größer, je kleiner die betrachtete Bevölkerungsgruppe ist und eine Extrapolation, beispielsweise auf Ebene der Postleitzahlen, ist in Deutschland noch nicht möglich.

In den USA gibt es mit dem United States Small-Area Life Expectancy Project (USALEEP) die erste landesweit verfügbare Statistik für das Gesundheitswesen. Auf Ebene der Volkszählungsgebiete, also den „ZIP-Codes,“ wird dabei die Lebenserwartung ab der Geburt für das gesamte Land ermittelt. Beteiligt an der Statistik sind mehrere öffentliche und private Organisationen. Die Daten aus dem USALEEP legen schonungslos offen, dass in den USA je nach Wohnort die Chancen, gesund zu sein, alles andere als gleich verteilt sind. Würde ich Sie jetzt fragen, ob Sie sich vorstellen können, von welchen Faktoren die potenziellen Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen langfristig am meisten abhängig sind, würden Sie vermutlich auf Themen wie die Scheidungsquote, genetische Prädispositionen oder meinetwegen auch auf den Lebensstil tippen. Spoiler: die sind es nicht. Zwei fiktive Menschen mit gleichem Gesundheitszustand im gleichen Alter können nämlich dennoch einen großen Unterschied aufweisen: die Postleitzahl.
Von den medizinischen Daten her könnten diese beiden fiktiven Menschen sogar Zwillinge sein. Ergänzt man diese Daten um ein einziges weiteres Datenelement – ihre Postleitzahl – so werden massive Unterschiede sichtbar. Wie sich im Projekt herausstellte, führt alleine die unterschiedliche geografische Situation zu einer radikal unterschiedlichen Lebenserwartung. Soviel vorweg: zurückgeführt werden kann diese enorme Lücke in der Lebenserwartung vor allem auf Unterschiede im Einkommensniveau, Bildungsniveau und dem Zugang zu Lebensmittelgeschäften mit frischen Lebensmitteln.

Vergleichbar mit Deutschland sind die Resultate dieses Projektes in vielerlei Hinsicht. So liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA bei 78,8 Jahren, also knapp unter den (gemittelten) 81 Jahren in Deutschland. Wie häufig für Durchschnittswerte üblich, erzählen diese meist alles andere als den Normalfall, sondern eben eine fiktive Mitte, von der es im echten Leben vor allem eines gibt: Abweichungen. So ist es für Kinder, die in Mississippi geboren werden, eher unwahrscheinlich, ihren 70. Geburtstag zu erleben. Kinder, die in Kalifornien, Hawaii oder New York auf die Welt kommen, können andererseit damit rechnen, bis in ihre frühen 80er Jahre zu leben. Ganz drastisch sind die Ausschläge in Washington D.C., wo zwei Postleitzahlengebiete nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen. In Viertel Barry Farms liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei gerade mal 63,2 Jahren. Weniger als 10 Meilen – oder 16 Kilometer – entfernt kann ein in den Vierteln Friendship Heights oder Friendship Village geborenes Baby laut den USALEEP-Daten damit rechnen, 96,1 Jahre alt zu werden. 16 Kilometer, die einen Unterschied von 33 Jahren Lebenszeit ausmachen! Das entspricht einer ganzen Generation, die vorzeitig stirbt. Die Auswirkung spüren nicht nur die Hinterbliebenen, falls der Hauptverdiener vor der Rente verstirbt, sondern auch die Wirtschaft in der betroffenen Gegend, der Arbeitskräfte fehlen.
Auch wenn es in den USA eine Korrelation zwischen den Orten mit der niedrigsten Lebenserwartung und der dunklen Hautfarbe der meist dort lebenden Menschen gibt, lassen sich die Ergebnisse durchaus auf Deutschland übertragen. Wie bereits erwähnt haben die Untersuchungen gezeigt, dass es in prekären Gebieten seltener Lebensmittelgeschäfte mit frischen Lebensmitteln gibt, dort weniger Sportplätze gebaut werden und auch hochwertige Gesundheitseinrichtungen kaum verfügbar sind. Somit haben die Bewohner dieser Orte auch weniger Chancen auf wirtschaftlichen Wohlstand. Die Arbeitslosenquoten sind höher, wodurch die Chance sinkt, überhaupt Arbeit zu finden. In Folge dessen rückt auch die Aussicht auf eine hochwertige Bildung in weite Ferne. All das wiederum hat ein ganzes Leben lang unmittelbaren Einfluss auf die Gesundheit.

Somit gibt es auch einen direkten Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Stärke eines Ortes und der Lebenserwartung der dort lebenden Menschen. Je wirtschaftlich angeschlagener eine Gegend ist, umso tendenziell niedriger ist die Lebenserwartung dort. Kinder aus wirtschaftlich benachteiligten Orten haben als Erwachsene tendenziell schlechtere Einkommen als vergleichbare Gruppen aus Gegenden, in denen sich eine Mittelschicht gebildet hat. Weitere Studien legen ebenfalls nahe, dass niedrigere Einkommen mit einer kürzeren Lebenserwartung verbunden sind. Nirgendwo auf der Welt ist das Einkommen gleichmäßig über das Land verteilt. Schließlich können ungleiche Einkommensmuster sogar zu ungleichen öffentlichen Investitionen in Sozialprogramme führen, die Menschen zu mehr Selbstverantwortung und letztlich mehr Einkommen befähigen würden, allen voran die Bildung. Ein Teufelskreis.
Die Postleitzahlen in den USA sind, wie bei uns, fünfstellig. Auch bei uns gibt es Gegenden, meist anhand der Postleitzahl sehr gut eingrenzbar, die als soziale Brennpunkte gelten. Welcher Bio-Supermarkt, welches Sternerestaurant und welche Wellness-Oase würde dort ein Geschäft eröffnen wollen?
Dass nicht der Lebensstil, sondern die Postleitzahl maßgeblich über die Lebenserwartung mitentscheidet, ist übrigens insbesondere in Europa keine neue Erkenntnis. In seinem 2014 erschienenen Buch „Mythos Vorbeugung“ wies der deutsche Wissenschaftsautor Matthias Becker ebenfalls anhand von Studien bereits auf dieses Phänomen hin. So leben die Menschen etwa in den reichsten Vierteln von London im Schnitt 17 Jahre länger als jene in dem ärmsten. Ob Darmkrebs, Bluthochdruck oder Diabetes, fast alle Leiden sind in der untersten Einkommensgruppe doppelt bis dreimal so häufig wie in der obersten. Wer gut verdient und gebildet ist, wird nachweislich seltener krank.

Die Digitalisierung wird uns dieses Problem übrigens nicht lösen. Egal, wie gut der Softwarecode auch sein mag, er alleine wird die zahlreichen Herausforderungen im Gesundheitswesen nicht bewältigen, denen Menschen mit der falschen Postleitzahl gegenüberstehen. Aber einfühlsame, gute und intelligente Kommunikation ist ein hervorragnder Ausgangspunkt, um dieser Situation zu begegnen. Apotheken wiederum, die es in Deutschland in den diversesten Gegenden, Orten und Stadtteilen gibt, sind für viele Menschen erster Anlaufpunkt bei Gesundheitsfragen. Egal, ob in den schicksten und teuersten Straßen Düsseldorfs, Hamburgs und Münchens oder in verrufenen Gegenden mit eher zwielichter Klientel: Apotheken sind stets ganz nah und stehen jedem ohne vorherigen Termin offen. Am besten geeignet und befähigt, diesen Teufelskreis in Deutschland zu durchbrechen, sind die Apotheken. Indem sie ihre Kunden kennen und sie, egal wie beratungsresistent sie auch sein mögen, aufklären, beraten und letztlich dazu befähigen, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, leisten sie einen enormen Beitrag dazu, dass die Postleitzahl viel mehr sein kann als nur ein Zustellbezirk für Post.