Die Cyberchondrie hat zwar noch keinen ICD-10-Code, aber immerhin schon einen Eintrag auf Wikipedia und auf DocCheck. Diese Kreuzung aus den Worten „Cyber“ und „Hypochondrie“ wird scherzhaft auch Morbus Google genannt. Den davon Betroffenen ist jedoch meist gar nicht zu Scherzen zumute, da sie nach intensiver Recherche von Krankheitssymptomen im Internet die schwerwiegende Angst entwickelt haben, ernsthaft erkrankt zu sein. Nimmt man medizinische Informationen aus dem Netz unkritisch hin und hält diese, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, für zutreffend, so können sich bestehende Krankheitsängste so weit verfestigen, dass sie zu einer manifesten Hypochondrie führen, inklusive physischer und psychischer Symptome.

Nicht nur der vielfach gescholtene Dr. Google, der angeblich nach jeder Eingabe von Symptomen Krebs im Endstadium diagnostiziert, ist dafür mitverantwortlich. Schließlich ist Google letztlich eine Suchmaschine, deren Ergebnisse einerseits vor allem darauf basieren, wie relevant ihre Inhalte sind und anderseits jedoch bedingen, dass derjenige, der die Informationen veröffentlicht, auch das Handwerk der Suchmaschinenoptimierung beherrscht. Man sollte dabei nicht dem Irrtum unterliegen, dass die Information im Internet über Krankheitsbilder und Symptome nicht auch für viele Menschen hilfreich sein kann. Denn das ist sie. Aber spätestens die Corona-Pandemie und die Impfkampagne haben uns auf eindrucksvolle Weise vor Augen geführt, dass viele unserer Mitmenschen nicht in der Lage sind, seriöse Quellen von unseriösen zu unterscheiden.
Häufig werden Meinungen Einzelner gedanklich gleich gestellt mit wissenschaftlichen Belegen. Mehrdeutige oder widersprüchliche Informationen werden einseitig interpretiert oder in falschem Kontext auf die eigene Person angewendet. Dazu kommt, dass ernsthafte und lebensbedrohliche Krankheiten für eine hohe Aufmerksamkeit bei Nutzern sorgen. Webseiten mit solchen Inhalten werden dadurch in den Suchmaschinen weiter oben gerankt. Schnell landet man so bei Leukämie, wenn man nur schnell nach den Ursachen für Nasenbluten suchen wollte. Statt der erhofften Entlastung werden so nur bereits vorhandene Krankheitsängste verstärkt. Die Folge: man sucht eine Zweitmeinung, natürlich im Netz, findet diese auch – und sucht dann weiter. Und weiter. Es entsteht ein Teufelskreis, der nicht nur die Betroffenen emotional belastet, sondern in Extremfällen auch zu übermäßigen Arztbesuchen führt. Wenn dabei nicht nur ein Arzt, sondern mehrere aufgesucht werden und diese nicht über den Patienten Bescheid wissen, steigt dabei auch das Risiko einer Falsch- oder Übermedikation. Exponentiell steigt diese Gefahr an, wenn Cyberchonder auch noch von Apotheke zu Apotheke vagabundieren und es keinen konsolidierten Medikationsplan gibt.

Vor allem für Ärzte, aber auch für Apotheken, ist es daher wichtig, sich dessen bewusst zu sein. Die Kunden bzw. Patienten kommen heute nicht mehr als weißes Blatt Papier. Sie haben eine vorgefertigte Meinung oder zumindest eine Tendenz. Dabei wird man die Patienten grob in zwei Gruppen einteilen können. Zum einen die E-Patienten, die Informationen aus dem Netz realistisch einschätzen können und diese Informationen samt Quelle auch in voller Transparenz ins Gespräch mit ihrem Arzt oder Apotheker einfließen lassen. Sie sind aufgrund ihrer digitalen Reife eher weniger anfällig für Cyberchondrie. Anders hingegen die zweite Gruppe, die dem Netz mehr vertraut als dem Heilberufler, die Apotheker und Ärzte im schlimmsten Fall sogar für „Marionetten der Pharma-Mafia“ hält. Von derart verunsicherten Cyberchondern wird man niemals auf Anhieb eine offene Auskunft erwarten können. Was jedoch nicht heißt, dass man diese Patientengruppe komplett sich selbst überlassen sollte. Hier sind drei Ansätze, mit denen man diesem neuen Krankheitsbild als Angehöriger eines Heilberufs begegnen kann.
1. Atmosphäre des Vertrauens herstellen
Sorgen Sie dafür, dass sich Ihre Patienten bei Ihnen wohl fühlen. Wenn das ganze Wartezimmer in der Arztpraxis mit Flyern pharmazeutischer Hersteller überquillt oder die Freiwahl bis zum letzten Quadratmeter mit Schütten zugestellt ist, sorgt alleine diese Umgebung für das Gefühl, dass einem jemand hier unbedingt etwas andrehen will. Weniger ist mehr. Auch die Spezialisierung auf ein, zwei Themenbereiche hilft dabei. Und sprechen Sie als Apothekerin oder Apotheker ihre Kunden an, nehmen ihre Körpersprache, vor allem ihre Mimik und Gestik wahr und spielen Sie vor allem ihre pharmazeutischen Asse gut aus. Nur wer offen mit Ihnen spricht, bekommt schließlich auch die bestmögliche Selbstmedikation zur Therapieunterstützung. Es schadet nicht, das auch immer wieder – direkt oder indirekt – anzusprechen.
2. Zweischneidigkeit der Informationen aus dem Internet kennen und selbst Quellen empfehlen
Machen Sie sich bei jedem Patienten, mit dem Sie sprechen, bewusst, dass er sich über seine Symptome vorab erkundigt hat. Fragen Sie im Zweifel, nach einer ersten unvoreingenommenen Anamnese, explizit danach, ob er schon nach seinen Gelenks-, Hals- oder Kopfschmerzen gegoogelt hat und was dabei rauskam. Wie bereits erwähnt, müssen Informationen aus dem Netz nicht zwangsweise falsch oder irreführend sein. Stellen Sie jedoch durch Ihre Fragen fest, dass Ihr Patient eine Affinität zur eigenen Recherche hat, so geben Sie ihm vertrauenswürdige Quellen an die Hand. Zu den bekanntesten an Endverbraucher gerichteten Seiten gehören hierbei sicherlich die Apotheken Umschau oder das Gesundheitsportal des Bundes. Aber zögern Sie nicht, andere Webseiten ins Gespräch zu bringen, wenn Sie von diesen überzeugt sind.
3. E-Rezept, E-Medikationsplan und E-Patientenakte zum Austausch der Leistungserbringer untereinander
Um das bereits erwähnte Risiko der Falsch-, Mehrfach- und Übermedikation zu mindern, ist ein standardisierter und strukturierter Informationsaustausch unter den Heilberufsangehörigen notwendig. Die Infrastruktur hierzu existiert mit der Telematikinfrastruktur bereits. Es gilt, sie mit den Werkzeugen E-Rezept, elektronischer Medikationsplan (eMP) und elektronischer Patientenakte (ePA) nun auch mit Leben zu füllen. So lange Informationen nur papiergebunden existieren und ihre Übermittlung von einem Leistungserbringer zum anderen vom Patienten abhängt, so wie das häufig bei Arztbriefen nach wie vor der Fall ist, gehen diese therapierelevanten Daten immer wieder verloren. Das muss nicht sein. Je mehr Informationen Apotheken und Ärzten über ihre Patienten vorliegen, umso besser können sie behandeln und beraten. Und das wiederum zahlt auf das Vertrauen der Patienten ein.

Cyberchondrie ist ein vergleichsweises neues Phänomen. Es sollte daher bei jedem Kunden und jeden Patienten in Betracht gezogen werden. Schließlich ist nicht nur die Symptomsuche im Internet sehr bequem – mit Telemedizin und Online-Apotheken wandern auch Leistungen ins Netz, die bislang überwiegend vor Ort erbracht wurden. Der beste Weg, um von diesem Trend nicht betroffen zu sein, ist es, seine Kunden möglichst gut zu kennen und ihn als Partner auf Augenhöhe zu akzeptieren.