Was ist ein E-Patient?

2019 hat das Marktforschungsunternehmen Kantar TNS im Auftrag von Google über 21.000 Interviews mit Internetnutzern im Alter zwischen 18 und 74 Jahren aus Deutschland, den USA, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Italien, Indien und Australien durchgeführt. Ziel dieser breit angelegten Studie, die im Oktober 2019 dann veröffentlicht wurde, war es, Antworten auf diese Fragen zu finden:

  • Was ist beim Patienten von heute anders im Vergleich zu früher, wo sich auf die Diagnose beim Arzt der Weg in die Apotheke vor Ort stets unmittelbar anschloss?
  • Wie hat sich die früher sehr lineare und vorhersehbare Consumer Journey verändert?

Eine erste Erkenntnis dieser repräsentativen Studie war, dass es gerade kein eindimensionales und lineares Kundenverhalten mehr gibt. Früher lief die sog. Customer Journey entlang mehrerer aufeinander aufbauenden Stadien ab: der Erkenntnis, dass eine Gesundheitsbehandlung geboten ist, folgte das Informieren über die vorhandenen Möglichkeiten, das Festlegen auf eine oder mehrere Optionen bis hin zur Entscheidung, eine bestimmte Behandlung vorzunehmen oder ein Produkt zu kaufen. Die Studie von Google brachte ans Licht, dass Kunden und Patienten heutzutage innerhalb dieser Prozess-Stadien scheinbar willkürlich hin und her wechseln. Grund dafür: jeder Information, die ein Patient an irgendeiner Stelle im Verlauf seiner Customer Journey bekommen hat, wird unmittelbar durch eine Online-Recherche nachgegangen. Die Hauptinformationsquelle dabei ist natürlich Google, mit der Apotheken Umschau direkt auf Platz zwei.

Apotheke Digitalisierung Patient Journey
Kunden und Patienten haben keine lineare Consumer Journey mehr

Als Konsequenz aus diesem klar beobachtbaren Verhalten zieht die Studie das Fazit, dass im Zentrum der neuen Consumer Journey der selbstbestimmte Patient steht. Auf Englisch ist das wahlweise der „empowered patient,“ „enabled patient“ oder „engaged patient“ – jedenfalls kurz: der E-Patient.

Diesen E-Patienten hatten Sie bestimmt auch schon bei sich in der Offizin stehen. Laut der Studie von Google/ Kantar zeichnen ihn die folgenden Merkmale aus:

  1. Er verlangt nach Informationen und besorgt sich diese vor seinem Besuch in der Arztpraxis oder Apotheke. Natürlich online, ohne sich dabei blind auf Dr. Google zu verlassen. Dabei bedient er sich aus durchschnittlich vier Quellen. Neben Google und der Apotheken-Umschau befinden sich unter den am häufigsten genannten Quellen auch YouTube, Facebook, DocMorris und die Shopapotheke. Er kommt also mit einer vorgefertigten Meinung zu Ihnen – und egal, wie richtig oder falsch diese auch tatsächlich sein mag, für ihn ist sie sein aktueller Wissensstand.
  2. Dabei recherchiert er nicht nur im Internet. Mobile Endgeräte wie Smartphones oder Wearables benutzt er als eine Art digitalen, persönlichen Assistenten, der ihm weitere Informationen zu seinem Gesundheitszustand liefert. Und natürlich führt er auch seine Gesundheitsrecherchen überwiegend auf dem Handy durch – manchmal sogar dann, wenn er direkt vor Ihnen am HV steht.
  3. Der Fokus liegt dabei immer weniger auf Antworten für Beschwerden. Die Frage lautet nicht mehr, wie man gesund wird, sondern wie man es bleibt. Der E-Patient will selbstbestimmt aktiv werden. Neben allgemeinen Gesundheitsinformationen werden immer häufiger auch alternative Behandlungsmethoden, digitale und technologische Tools als Helfer sowie Wellness- und Ernährungstrends gezielt gesucht.
  4. Das bedingt leider, dass der E-Patient ständig online ist, sofortige Befriedigung seiner Wünsche erwartet (und gewohnt ist) und somit sehr ungeduldig ist. Kaufentscheidungen werden am Smartphone binnen kürzester Zeit getroffen und werden vom Kunden, dem E-Patienten, in gut der Hälfte aller Fälle als dringend angesehen. Wiederum gilt: ob sie tatsächlich dringend sind oder nicht, spielt eine untergeordnete Rolle. Wenn der Kunde denkt, dass sein Kaufwunsch dringend ist, dann ist er das in dem Moment für jeden, der mit dem entsprechenden Verkauf seinen Lebensunterhalt bestreitet. Nicht nur die Ware will schnell erhalten werden, sondern auch Antworten auf Gesundheitsfragen.
  5. Der E-Patient nimmt seine Gesundheit selbst in die Hand. Er recherchiert nicht nur bevor er einen Arzt oder Apotheker aufsucht, sondern auch danach wird alles, was ihm empfohlen wurde, online hinterfragt. Die Suche umfasst dabei nicht nur Symptome, sondern auch Behandlungen, Maßnahmen, Produkte und mögliche Ursachen. Selbst Laien lesen sich hierbei häufig wissenschaftliche Berichte durch, wenn der Inhalt eine Lösung für ihr Anliegen verspricht.
Apotheke Digitalisierung Patient Journey

Die Antworten, welche die Studie zutage gefördert hat, sind noch keine zwei Jahre alt sind. Sie sind wenig überraschend. Sie sollten aber im Lichte einiger Aspekte nochmal ganz konkret betrachtet und von Apotheken (und Ärzten) äußerst ernst genommen werden. Denn auch wenn heute die Kunden und Patienten noch physisch in die Apotheke oder Praxis kommen und das Rezept auf Papier ausgestellt bekommen bzw. aushändigen, so ist das ein Abbild der Customer Journey, deren Ende längst eingeläutet ist. Das liegt nicht nur an der Einführung neuer, meist digitaler Technologien, sondern vor allem an der Erwartungshaltung, welche die Teilnehmer der Studie zum Ausdruck gebracht haben. Zur Erinnerung: diese waren damals im Alter von 18 bis 74 Jahren. Selbst wenn Sie Ihre Kundenstruktur als eher alt und wenig digital affin beschreiben würden, so muss Ihnen klar sein, dass Sie diese Kunden vermutlich überleben werden. Also gilt es, die kommende Generation an Kunden, allesamt E-Patienten, nicht nur zu überzeugen, sondern vor allem anzusprechen und an die eigene Apotheke zu binden. Wie das gehen soll – auch darüber gibt die Studie Aufschluss.

  1. Kunden und Patienten verlangen nach Informationen. Um zu verstehen, was sie wirklich will, müssen Sie mit ihnen sprechen. Das geht im persönlichen Gespräch am besten. Nur dort kann man Gestik und Mimik auch mit einbeziehen. Und je mehr Sie fragen und mit ihnen sprechen, umso eher kommen sie dahinter, wie sie diese Kunden beim gesund bleiben unterstützen können.
  2. Damit es zum persönlichen Gespräch überhaupt erst kommt, sind lange Öffnungszeiten alleine nicht mehr ausreichend. Leistungserbringer müssen digital sichtbar sein. Denn dort fängt die Recherche der überwältigenden Mehrheit an E-Patienten an. Sie sind nie offline und höchst ungeduldig. Wer online nicht auffindbar ist, findet früher oder später offline nicht mehr statt. Für Apotheken drängen sich in diesem Kontext die gerade entstehenden Plattformen geradezu auf. Diese werden sich, wie in anderen Branchen, auch im Gesundheitswesen durchsetzen und erste Anlaufstelle für E-Patienten werden.
  3. Gibt es Themen, die Ihnen besonders am Herzen liegen? Spezialwissen im Internet ist äußerst gefragt. Egal, ob Selbsthilfegruppen bei seltenen Krankheiten, neue Therapieformen und Arzneimittel oder sonstige Themen jenseits des Mainstreams. Wenn Sie Ihr Thema im Internet ausspielen, beispielsweise über Social Media, machen Sie dadurch nicht nur auf Ihre Apotheke aufmerksam sondern erhöhen auch Ihre eigene Sichtbarkeit als Experte. Über die bereits erwähnten Plattformen und telepharmazeutische Angebote wird dadurch auch der Standort der Apotheke zunehmend in den Hintergrund treten.
  4. Erweitern Sie Ihr Angebot und ermöglichen Sie Ihren Kunden nicht nur das gesund werden, sondern auch das gesund bleiben. Egal ob Ernährungsberatung, Fitness oder Wellness. Es entsteht derzeit ein sog. „dritter Gesundheitsmarkt“ entlang der kompletten Customer Journey, der sich komplett abseits von Kassenleistungen befindet und für den der E-Patient bereitwillig Geld ausgibt. Gute digitale Sichtbarkeit und empathische analoge Beratung sind die Grundvoraussetzungen, um Ihnen einen Platz in diesem dritten Gesundheitsmarkt zu sichern.
Apotheke Digitalisierung Patient Journey

Kein halbes Jahr nach Veröffentlichung der Studie brach übrigens die Corona-Pandemie aus. Sie hat die Trends, die in der Studie von Google und Kantar beschrieben wurden, nochmal deutlich beschleunigt. Während Teile des Gesundheitssystems durch Corona an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit geraten sind und sich dort vielfach bis heute befinden, steckt in jeder Krise auch eine Chance. Der Erfolg digitaler Geschäftssmodelle in der Pandemie beweist, dass die Kritiker der Digitalisierung falsch lagen. Sobald Digitalisierung nicht zum Selbstweck missbraucht wird, sondern zum größtmöglichen Nutzen möglichst vieler Menschen, wird diese Chance greifbar. Der E-Patient ist die Verkörperung dieser Chance. Sich auf ihn einzustellen ohne dabei die bisherigen Kunden auf der Strecke zu lassen ist der Weg in die Zukunft für alle Heilberufe.

P.S.: den Begriff E-Patient haben übrigens weder Google noch Kantar erfunden. Er geht zurück auf den US-Amerikaner Dave deBronkart, auch bekannt als e-Patient Dave. Bei ihm wurde im Januar 2007 bei einer routinemäßigen Schulterröntgenaufnahme ein Schatten in der Lunge entdeckt. Dieser erwies sich als metastasierter Nierenkrebs im Stadium IV, ein Nierenzellkarzinom vom Grad 4. Seine durchschnittliche Überlebenszeit zum Zeitpunkt der Diagnose wurde ihm mit lediglich 24 Wochen errechnet. Da er seit 1989 in der Online-Community sehr aktiv war, richtete er sich an eine Gruppe anderer Betroffener im Internet – und fand eine Therapiemöglichkeit, die nicht einmal seinen Ärzten bekannt war. Sie rettete sein Leben. Nun fordert er alle Patienten auf, sich untereinander auszutauschen, ihre eigenen Gesundheitsdaten zu kennen und das Gesundheitssystem Schritt für Schritt zu verbessern. Während seiner Krankheit fing er an, Tagebücher und Blogposts über seine Erfahrungen zu schreiben, die er mit „Patient Dave“ signierte. Im Januar 2008 erfuhr er von einem „E-Patient White Paper“ eines gewissen Dr. Thomas William Ferguson. Darin wird beschrieben, wie Patienten mit ihren Heilberuflern auf dem Weg zum Therapierfolg zusammenarbeiten und dabei auch das Internet nutzen können, um aktiv an ihrer Versorgung teilzunehmen und diese dadurch sogar verbessern können. Das waren genau die Erfarhungen, die Dave während seiner eigenen Krankheit gemacht hatte. Nach seiner Genesung benannte er sich um in „E-Patient Dave.“ Er ist heute ein viel gebuchter Keynote-Speaker und eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der Bewegung des „Patient Empowerments,“ also der Ermächtigung von Patienten zu mehr Selbstbestimmung.