„Culture eats strategy for breakfast.“
An dieses einprägsame Zitat des berühmten Ökonoms Peter Drucker muss ich häufig denken, wenn ich sehe, wie in Deutschland mit Digitalisierung und Innovation umgegangen wird – nicht nur im Gesundheitssystem, übrigens. Denn tatsächlich hat es dieses Zitat in sich: Kultur verschlingt Strategie zum Frühstück. Klar, die Strategie gibt dich Richtung vor. Das operative Tagegeschäft beschreitet dann den Weg in die von der Strategie vorgegebene Richtung. Die Kultur wiederum ist der Motor für das gesamte Team auf diesem Weg. Dumm nur, wenn die Kultur der Strategie im Weg steht. Denn ohne die passende Unternehmenskultur ist selbst die beste Strategie zum scheitern verdammt.

Welche Kultur haben Sie in Ihrer Apotheke, in Ihrem Unternehmen? Eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserung? Der offenen Analyse von Schwachstellen in Abläufen und Prozessen? Mit dem Ziel, Ineffizienz und Verschwendung zu verhindern oder zu beseitigen? Eventuell noch gepaart mit einem strukturierten Ideenmanagement? Wunderbar, würde man im ersten Moment denken, dann ist doch alles gut. Die Kultur scheint ja auf Innovation ausgerichtet zu sein. Ist sie aber in Wirklichkeit leider überhaupt nicht. Denn eine Kultur der stetigen Verbesserung basiert ja gerade darauf, das, was ohnehin schon da ist, zu verbessern. Damit erhält sie das Bestehende zumindest im Kern. Innovationen, die nicht in das Raster der vorhandenen Prozesse passen, werden daher auch gerne schnell als nicht erfolgsversprechend verworfen.
Das Gesundheitswesen in Deutschland, ganz besonders aber die Apotheke vor Ort, steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Oder, um ein überstrapaziertes Wort zu verwenden, die Disruption klopft bereits an die Tür. Nur denken wir in unserer Apothekenbubble gerne, dass das E-Rezept und die Plattformen ja irgendwie so gar nicht zu unseren Prozessen passen. Und die haben wir doch über Jahre kontinuierlich optimiert. Wer braucht denn schon das E-Rezept und Vorbestellplattformen?

Womit wir bei den Kunden wären. Mit ihnen zu sprechen ist immer eine gute Idee. Die Kunden kennen meist die internen Prozesse der Unternehmen nicht, bei denen sie kaufen. Sie sind ihnen in aller Regel sogar ziemlich egal. Was aber klar ist: kein Kunde, insbesondere kein chronisch kranker Patient, läuft gerne zum Arzt, steckt seine Versichertenkarte in ein Terminal, nur um ein rosa Stück Papier ausgehändigt zu bekommen, mit dem er dann in die Apotheke läuft. Dort bekommt er dann entweder sein Arzneimittel ausgehändigt – oder in letzter Zeit vermehrt auch nicht. Der Prozess der Rezepteinlösung ist höchst ineffizient. Und von den Lieferengpässen sind nicht nur Apotheken und ihre Mitarbeitenden genervt – die Kunden sind es genauso. Insbesondere wenn sie es aus anderen Bereichen des täglichen Lebens gewohnt sind, Bestellungen online aufzugeben und über Verzögerungen proaktiv informiert zu werden. Ein Positivbeispiel hierfür ist sicherlich die DB Navigator App. In ihr kann man nicht nur Zugtickets buchen, sondern bekommt auch Verspätungen und Zugausfälle per Push-Nachricht aufs Handy. Im Zug kann man per Komfort-Check-In sogar sein digitales Ticket entwerten, ohne mit dem Schaffner sprechen zu müssen. Introvertierte Tech-Nerds schwören angeblich drauf! Bei einer Organisation wie der Deutschen Bahn, bei der die Prozesse alles andere als dauerhaft rund laufen, ist das digitale Werkzeug, die App, optimal für die Kundenbindung.
Um den eigenen Kunden also ähnlich positive Erfahrungen zu bescheren, bräuchte es auch für die Apotheke ein digitales Tool, das regelmäßig eingesetzt wird und einfach nur verbindliche Informationen liefert. Beim E-Rezept haben dem Vernehmen nach die Ärzteverbände nicht mitgespielt. Dass laut Plänen der EU die E-Rezepte aus einem Mitgliedsstaat bis 2025 in jedem anderen Mitgliedsland eingelöst und abgerechnet werden sollen, ist dabei übrigens mehr als nur eine Randnotiz. Die EU hat immerhin u.a. auch dafür gesorgt, dass die horrenden Roaminggebühren der Mobilfunkanbieter, wie es sie noch vor 20 Jahren gab, der Vergangenheit angehören. Und, wieder zurück zu den digitalen Tools für Apotheken, bei den Plattformen verlautet immer wieder Kritik von Seiten der Apothekenverbände. Womit wir wieder beim Thema der Kultur wären. Interessensvertretungen von Berufen, wie es die Apothekerverbände nun mal sind, basieren definitionsgemäß auf einer Kultur des Bewahrens. Sie vertreten die Interessen der niedergelassenen Apotheker. Das baut auf dem Status Quo auf und der soll ja weder reduziert noch obsolet werden. Im Laufe der Zeit entwickelt aber jede größere Organisation, und damit meine ich ausdrücklich nicht nur Verbände, ein Eigenleben. Es entstehen Hierarchien – und somit weitere Anreize für die dort Beschäftigten, den eigenen Status Quo zu verteidigen. Kultur vernascht meines Erachtens nicht nur die Strategie zum Frühstück, sondern die Disruption zum Mittagessen gleich noch hinterher.

Was aber, wenn die Disruption stärker ist? In den USA hat Amazon kürzlich eine Rx-Flatrate gestartet. „Wer Prime-Mitglied ist, bekommt für eine Monatspauschale von 5 US-Dollar alle benötigten Generika aus einer Gruppe von 53 Wirkstoffen. Die Lieferung ist kostenlos,“ berichtet apotheke-adhoc am 24.01.2023. Ich bin selbst Chroniker und meiner Stammapotheke treu verbunden. Aber würde mir Amazon dieses Abonnement für meine Arzneimittel anbieten, ich würde keine Sekunde zögern und darauf eingehen. Und ich behaupte mal, dass die Chroniker, die wie ich denken, in der Mehrzahl sind – und Kunde bei Amazon sind die meisten ebenfalls. In dem Moment, in dem ein solcher Dominostein in Deutschland umfällt, kann es sehr schnell gehen. Dann dauert es nur weniger Monate, bis unser System der Arzneimittelversorgung ein völlig anderes ist. Dass man dann im Notdienst längere Fahrtstrecken in Kauf nehmen wird, ist zwar ein rationales Argument. Aber so vernünftig sind wir Kunden halt dann doch nicht immer. Und es soll später bitte niemand behaupten, die Apotheken in Deutschland hätten im Vorfeld nicht unzählige Chancen liegen lassen, um die Kunden enger an sich zu binden.
Wie also bekommen wir auch im Gesundheitswesen eine Kultur geschaffen, die Veränderungen gegenüber aufgeschlossen ist und Innovationen als solche erkennt, annimmt und umsetzt? Zunächst einmal braucht eine Innovationskultur andere Strukturen. Vorhandene Strukturen sind gut, um das Bestehende zu optimieren. Den kontinuierlichen Verbesserungsprozess sollte man daher auch nicht komplett entsorgen. Für radikale, ja, mitunter disruptive Veränderungen braucht es aber bereichs- und sektorenübergreifende Netzwerke. Der häufig verfälschte Blick aus dem Inneren einer Organisation muss unbedingt durch Impulse von außen ergänzt werden. Hierfür müssen Hierarchien abgebaut werden, jeder sollte mit jedem auf Augenhöhe sprechen können. Jede Organisation, die im Gesundheitswesen tätig ist, sollte einen Patientenbeirat einrichten – auch die Organisationen (Unternehmen und Verbände), die bislang nichts, gar nichts, mit Patienten oder Endverbrauchern zu tun hatten. Die Patienten werden immer mündiger. Sie haben die Wahl. Und wenn die Prozesse in Ihrer Apotheke oder Ihrem Unternehmen zwar reibungslos funktionieren, ein bislang Marktfremder schlicht und einfach eine passendere Lösung hat, dann ist auch klar, wohin die Wahl der Kunden in aller Regel fallen wird. Deswegen sollten Patienten im Gesundheitswesen an oberster Stelle eine Rolle bekommen, um die (vermeintliche) Wertschöpfungskette nicht an ihnen vorbei zu gestalten.

Apothekeninhaber stehen wie Vorsitzende von Verbänden oder CEOs in Unternehmen an der Spitze von Organisationen. Von Unternehmen. Was zu unternehmen ist, habe ich in diesem Artikel versucht, anzureißen. Wer als Unternehmer nichts unternimmt, ist Unterlasser. Und braucht sich nicht zu wundern, wenn die von ihm geschaffene Kultur die Strategie zum Frühstück, die Disruption zum Mittagessen und zu guter Letzt die eigene Organisation zum Nachtisch vernascht.
Servus, Florian!
Du hast absolut recht damit, dass die Strategie meist nicht lange überlebt, wenn man nicht wirklich zu Veränderungen bereit ist.
Nur ein paar Anmerkungen zu Deinem Artikel:
– Ich glaube es ist nicht wirklich der Prozess der „Rezepteinlösung“, der aus Patientensicht ineffizient ist, sondern vielmehr der Gesamtablauf über Arzttermin, Verschreibung, Rezeptausstellung, Übermittlung, Rezepteinlösung bis zum Erhalt des Medikaments.
– Du solltest besser nicht von „digitalen Tools für Apotheken“ sprechen, denn ganz im Sinne Deines eigenen Textes müssten es digitale Tools _für Patienten_ sein, damit sie von denen auch benutzt werden.
– Die Verbände zu kritisieren, weil sie gegen Plattformen seien, schießt zu kurz, solange die verfügbaren Plattformen vor allem versuchen, ein digitales Tool für Apotheken zu sein (und damit am besten auch sofort Erträge zu erzielen).
just my two cents…
Viele Grüße
Mathias
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Lieber Mathias,
sehr gute Punkte und ich finde, auch mehr wert als nur zwei Cent. Mein erster Impuls war, Deinen Kommentar zu löschen und die drei Anmerkungen in den Text einzuarbeiten.
Aber da wir in der Vergangenheit schon sehr gute Texte gemeinsam verfasst haben, lass ich Deinen Kommentar als Ergänzung zu meinem Artikel einfach stehen.
Danke und herzliche Grüße, Flo
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[…] Erfolg bezeichnet werden. Mit so einer Kultur brauchen Sie keine Angst mehr vor Strategie haben – diese Kultur wird jegliche Strategie zum Frühstück vernaschen. Na, Mahlzeit […]
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[…] In anderen europäischen Ländern, wie beispielsweise in Frankreich, ist assistierte Telemedizin bereits im Versorgungsalltag angekommen. Bereits auf der Pharmagora Plus im letzten Jahr wurden unzählige Telemedizin-Terminals für den Aufbau in Apotheken ausgestellt. So war es übrigens auch dieses Jahr Anfang März wieder. Gekoppelt mit dem E-Rezept (das dann direkt in der Apotheke eingelöst werden könnte) und der ePA (über die der Telemediziner auf die komplette Anamnese und Historie zugreifen könnte), wäre das ein erhebliches Plus für ein patientenzentriertes Gesundheitswesen und könnte auch die stationären Apotheken als Dreh- und Angelpunkt für die lokale Gesundheitsversorgung weiter stärken. Apotheken sollten alleine deswegen zu genau diesem Thema eigene Angebote entwickeln und sich darum bemühen, dass es dafür auch Fördergelder seitens der Politik gibt. Der Punkt mit den Kiosken und den Telemedizinterminals scheint ein zentraler Punkt auf Lauterbachs Agenda zu sein, er wurde im Rahmen der Digitalstrategie nicht zum ersten Mal erwähnt. Also sollten Apotheken ihn mitgestalten – oder sie werden gestaltet werden. […]
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