Estland und Finnland verbindet nicht nur eine gemeinsame Landesgrenze, die Millionen von Menschen jährlich überqueren, wenn sie beispielsweise von Helsinki nach Tallinn reisen oder umgekehrt. Denn auch im Gesundheitswesen geht die Vernetzung der beiden Länder schon weiter als im Rest der Welt. Denn sowohl Esten als auch Finnen können inzwischen ihre Rezepte in einer beliebigen Apotheke in einem der beiden Länder einlösen – unabhängig davon, in welchem sie leben und krankenversichert sind.

Möglich machen das elektronische grenzüberschreitenden Gesundheitsdienste, die seit 2019 EU-weit aufgebaut und ausgerollt werden. Zwei dieser Dienste, mit den bezeichnenden Namen ePrescription (E-Rezept) und eDispensation (elektronische Dispensierung), sollen es allen EU-Bürgern ermöglichen, ihre Medikamente in einer Apotheke in jedem anderen EU-Land(!) zu beziehen. Auf technischer Ebene werden dabei elektronische Verordnungen aus dem jeweiligen Wohnsitzland, in welchem eine Krankenversicherung besteht, online ins Reiseland übertragen.
Bereits heute ist dieser Dienst, einer von vielen, die von der Europäischen Union im Rahmen der eHealth Digital Service Infrastruktur (eHDSI) in Betrieb genommen werden, neben Estland und Finnland auch in Kroatien und Portugal verfügbar. Und natürlich funktioniert das auch zwischen diesen vier Ländern untereinander, aktuell mit Ausnahme von portugiesischen Apothekerinnen und Apothekern, die noch keine Rezepte von estländischen Kundinnen und Kunden dispensieren können.

Dreh- und Angelpunkt ist dabei der elektronische Personalausweis. Als solcher wird ein mit einem elektronischen Speichermedium ergänzter Personalausweis bezeichnet. In Deutschland wird dafür ein RFID-Chip verwendet. Immerhin seit November 2010 ist jeder neu auszustellende deutsche Personalausweis ein solcher. Auf diesem Chip sind vor allem diejenigen Daten gespeichert, die zur eindeutigen Identifizierung der Person benötigt werden. Wird nun in einer finnischen Apotheke ein estländischer (oder kroatischer oder portugiesischer) elektronischer Personalausweis an ein Kartenlesegerät gehalten, so suchen die dortigen Systeme auf der eHDSI-Plattform nach Verordnungen für die am HV stehende Person. Übersetzungen aus der Heimatsprache des Kunden in die lokale Sprache erfolgen dabei übrigens automatisch.
Diejenigen Europäer, die dieses System bereits nutzen können, sind aktuell übrigens zunächst Selbstzahler und werden vor Ort behandelt wie Privatversicherte in Deutschland. Aber die eHDSI-Plattform schickt die Informationen, welche(s) Arzneimittel abgegeben und wieviel bezahlt wurde, natürlich postwendend zurück ins Ursprungsland der Kunden. Und dort erfolgt dann die teilweise oder vollständige Erstattung an die Versicherten. Lediglich Psychopharmaka, Betäubungsmittel und rezeptfreie Rezepturen, die in der Apotheke zubereitet werden, können derzeit noch nicht grenzüberschreitend verordnet oder abgegeben werden.

Was in Estland, Finnland, Kroatien und Portugal schon funktioniert, klingt für Menschen, welche die eher zähe Entwicklung des E-Rezeptes über die letzten 17 Jahre in Deutschland miterlebt haben, irgendwie nach Science Fiction. Aber eine Zukunft, in der man nicht nur Verordnungen, sondern ganze Gesundheitsakten inklusive Allergien, Diagnosen und natürlich auch Medikationsplänen grenzüberschreitend in ganz Europa zur Verfügung haben wird, ist Teil der Public Health Strategie der Europäischen Union. Vergleichen wir es doch nur einmal mit dem Mobilfunk. Über zu hohe Roaming-Gebühren innerhalb Europas macht sich doch heute auch niemand mehr Gedanken. Aber ich erinnere mich noch sehr gut an meine fast ruinöse Handyrechnung nach zwei Wochen Italien im Jahr 2000. Diese faktische Behinderung der innereuropäischen Bewegungsfreiheit wurde konsequent eliminiert. Können Gesundheitsinformationen nicht verlustfrei ausgetauscht werden, stellt das für eine immer älter werdende Gesellschaft eine vergleichbare Beschränkung dieser Freizügigkeit dar.
Daher ist es auch nur konsequent, dass die EU festgelegt hat, bis 2025 die Services ePrescripstion und eDispensation schrittweise in diesen 25 EU-Ländern zu implementieren: Österreich, Belgien, Kroatien, Zypern, Tschechische Republik, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Ungarn, Irland, Italien, Litauen, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien, Schweden, Slowakei, Lettland, Bulgarien … und Deutschland. Sie sehen: die Einführung des E-Rezeptes in Deutschland wird nur der Anfang gewesen sein – danach geht es auf europäischer Ebene weiter. Und es wäre doch schön, wenn wir diesmal nicht das Schlusslicht wären!
Sehr wichtiges Thema und gut geschriebener Artikel!
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[…] schaut also so aus, als müssten die Apotheken dem E-Rezept in Deutschland zu seinem Erfolg verhelfen, indem sie die medienbruchfreie Nutzung der E-Rezept-App mit ermöglichen. Immerhin werden über […]
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[…] liefert. Beim E-Rezept haben dem Vernehmen nach die Ärzteverbände nicht mitgespielt. Dass laut Plänen der EU die E-Rezepte aus einem Mitgliedsstaat bis 2025 in jedem anderen Mitgliedsland e… werden sollen, ist dabei übrigens mehr als nur eine Randnotiz. Die EU hat immerhin u.a. auch […]
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