Wie gefährlich ist Amazon für Apotheken?

Dass Amazon versucht, in den Gesundheitsmarkt vorzudringen, ist nicht neu. Erste Gehversuche des E-Commerce-Giganten aus Seattle finden immer wieder statt. Andere Branchen wurden nach einem Markteintritt von Amazon stets massiv umgestaltet. Davon zeugen nicht nur die vielen verschwundenen unabhängigen Buchhandlungen, sondern auch unzählige weiteren Schicksale von lokalen Einzelhändlern bis hin zu Videotheken, denen Amazon Prime im Verbund mit Netflix die Kundschaft komplett abgenommen hat. Dass Amazon also das Potential hat, ganze Märkte umzukrempeln, steht ausser Frage. Kernstück dabei ist stets die Logistik, die sich der Tech-Riese weltweit aufgebaut hat. Aber das ist letztlich nur die „Hardware.“ Viel wichtiger ist die „Software,“ nämlich die nahezu obsessive Kundenorientierung, die vor allem Firmengründer Jeff Bezos all seinen Führungskräften förmlich eingetrichtert hat. Nahezu legendär ist dabei der leere Stuhl, der in keinem Meeting fehlen durfte. Dieser leere Stuhl stand symbolisch für den wichtigsten Menschen bei jedem Meeting: den Kunden. Über die Jahre wurde er bei Amazon zur Institution. Fiel der Blick eines Mitarbeiters auf den leeren Stuhl, so fragte er sich, was wohl ein Kunde, wenn er beim Meeting anwesend wäre, davon halten würde. Fände er die Diskussion relevant? Steckt in dem, was geplant wird, ein Vorteil für ihn?

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Auch wenn man den leeren Stuhl durchaus für Weltverbesserer-Romantik halten kann, so steht die Kundenzufriedenheit bei Amazon tatsächlich an vorderster Stelle. Sie wird kontinuierlich anhand der Daten gemessen, die jeder Nutzer bewusst oder unbewusst hinterlässt. Wie lange wird welches Angebot angeschaut? Bei welchem Impuls wird der Kauf initiiert? An welcher Stelle im Kaufprozess springen Kunden noch ab? Systematisch wird so ermittelt, wer sich wofür interessiert, um sicherzustellen, dass jeder Kunde ein möglichst optimales Einkaufserlebnis erfährt – und möglichst bald wiederkommt.

Ähnlich wie kontinuierlich gemessen wird, ob sich die Erwartungen der Kunden erfüllen, experimientiert Amazon auch in vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung. Im Januar 2018 hatte Amazon gemeinsam mit JP Morgan und der Beteiligungsgesellschaft Berkshire Hathaway von Starinvestor Warren Buffett angekündigt, die Kräfte zu bündeln, um den Mitarbeitern der drei Unternehmen eine kostengünstige Krankenversicherung anbieten zu können. Dieses gemeinsame Projekt mit dem Namen Haven Healthcare wurde Ende Februar 2021 nach rund drei Jahren schon wieder eingestellt. Die großen Hoffnungen in das Projekt der finanzstarken Konzerne erfüllten sich nicht, auch wenn es bis heute keine genauen Angaben dazu gibt, woran das Projekt letztlich scheiterte. Dass Amazon die gewonnenen Erkenntnisse auch künftig zu nutzen weiss, davon darf hingegen getrost ausgegangen werden.

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Andere Projekte hingegen waren, zumindest in den USA, erfolgreicher. So wird mit Amazon Care eine eigene Telemedizinplattform betrieben. OTC-Eigenmarken vertreibt Amazon unter dem Namen „Basic Care“ schon in vielen Ländern sehr erfolgreich, in Deutschland gibt es von dieser Marke bislang lediglich Hilfsmittel wie Pflaster und Slipeinlagen. Interessant ist dabei der Button „Amazon Spar-Abo“ neben den Arzneimitteln und Medizinprodukten. Da wird schon ganz ungeniert auf die Chroniker geschielt, von denen Amazon mit Sicherheit weiß, dass das Einholen der Folgeverordnungen zu deren lästigsten Pflichten gehört. Und als Amazon im Sommer 2018 für knapp eine Milliarde US-Dollar das Unternehmen „PillPack“ gekauft hat, eine US-amerikanische Versandapotheke, die ihren Patienten individuelle Wochenblister nach Hause schickt, reagierte die globale Pharmazeuten-Community wie nach einem verheerenden Erdbeben. Wie gefährlich ist Amazon also tatsächlich für Apotheken?

An Spielgeld jedenfalls hat es Amazon noch nie gemangelt. Mit dem für Amazon typischen Vorgehen von Versuch und Irrtum scheint derzeit am Geschäftsmodell für den Arzneimittelmarkt gefeilt zu werden. Anders als Bücher oder Konsumgüter ist der Versand von Arzneimitteln und Medizinprodukten jedoch eine hochkomplexe Thematik. Eine internationale Skalierung scheitert unter anderem daran, dass es in jedem Land unterschiedliche Normen für den Versand von Arzneimitteln gibt, sofern dieser überhaupt erlaubt ist. Aber ohne die Möglichkeit eines internationalen Ausrollens sind die Profitaussichten eher mau. Auch ist die Erstattung von Arzneimitteln durch Krankenkassen oder den Staat selbst von Land zu Land unterschiedlich. Nach den Erfahrungen mit Haven Healthcare wird sich Amazon im Gesundheitswesen künftig vermutlich etwas weniger Irrtum zugestehen als sonst.

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Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass Amazon selbst in den deutschen Arzneimittelmarkt einsteigen wird. Wie schwer man sich im Spannungsfeld aus Heilmittelwerbegesetz, Sozialgesetzbuch V, Apothekengesetz, Apothekenbetriebsordnung und sämtlichen weiteren in diesem Kontext relevanten Regelungen zurechtfindet, habe ich in meinem Berufsleben immer wieder erleben müssen, wenn hochmotivierte, intelligente aber branchenfremde neue Kollegen sich an dieser Komplexität abgearbeitet haben und sich ihre Meriten nach kurzer Zeit lieber in anderen Märkten verdient haben. Warum sollte es Amazon da anders gehen? Zumal insbesondere im Bereich der verschreibungspflichtigen Arzneimittel ja nicht unbedingt der Kunde selbst überzeugt werden muss – das würde Amazon bestimmt mit Bravour gelingen – sondern die verodnenden Ärzte und die Krankenkassen. Bei diesen Zielgruppen entscheidet jedoch selten ausschließlich das Marketingbudget, sondern auch und vor allem die Evidenz und der Nutzen.

Können sich Apotheken also entspannt zurücklehnen, weil Amazon ja schließlich nur eine Scheingefahr ist? Leider nein. Die Maßnahmen von Amazon zeigen deutlich, wie stark dort der Fokus auf das Gesundheitswesen inzwischen ausgeprägt ist. Auch das Ziel ist eindeutig: Amazon soll zu einem führenden Healthcare-Unternehmen werden. Wie die Beispiele von Haven Healthcare (Krankenkasse), Amazon Care (Telemedizin) und der Eigenmarke Amazon Care zeigen, wird hier sogar an einem geschlossenen System gearbeitet: alles aus einer Hand bedeutet auch, dass alle Einnahmen an einer Stelle zusammenlaufen. Auch wenn eine solche Konstellation den Wettbewerb für Außenstehende erschwert, die nicht Teil des geschlossenen Systems sind, schließt zumindest Amazon eine solche Kompetition nicht aus. Im Gegenteil: „Was wir nicht sehen wollen, ist eine Handvoll großer Organisationen, großer Unternehmen und großer Gesundheitssysteme, die einen Sektor komplett dominieren“, wird Amazon Vice President Dr. Babak Parviz zitiert. „Eine gesunde Branche wird stets aus großen Unternehmen, vielen mittelständischen Unternehmen und vielen, vielen Startups bestehen.

Das Beispiel PillPack aus den USA zeigt, wie Amazon agieren kann. Erst als damals bekannt wurde, das Walmart Anteile an Pillpack erwerben wollte, hat Amazon schnell zugeschlagen. Ähnlich ist die Situation in Deutschland. Auch hier ist Amazon heute schon nur eine Akquise weit entfernt vom Markteintritt. Um gut gewappnet zu sein für den Tag, an dem Amazon eine nach Deutschland liefernde Versandapotheke kauft, ist es dringend geboten, sich mit den aktuell wichtigsten Digital-Trends für Apotheken auseinander zu setzen. Das E-Rezept und die Plattformen bieten hier neue Möglichkeiten. Insbesondere letztere sollte man im Kontext von Amazon auch nochmal unter einem anderen Lichte betrachten. Die Plattformen tragen nämlich markante Züge der frühen Apothekenkooperationen hierzulande. Auch diese waren damals vor allem Zusammenschlüsse von Gleichgesinnten, um auf Augenhöhe mit der pharmazeutischen Industrie verhandeln zu können. Eine starke Apothekenplattform, die es schafft, ihre Nutzer zu begeistern und die Belieferung von E-Rezepten durch die Apotheken vor Ort sicherzustellen, wäre ein wahres Bollwerk, an dem Amazon nur schwer vorbei ziehen könnte. Das bedingt aber auch, jetzt zu handeln und nicht zu zögern.