Anfang März stellte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach seine gemeinsam mit Patientenvertretern und Akteuren des Gesundheitswesens über mehrere Monate hinweg entwickelte Digitalisierungsstrategie für Gesundheit und Pflege vor. Auf der Homepage des Bundesgesundheitsministeriums wird er dazu wie folgt zitiert:
Deutschlands Gesundheitswesen hängt in der Digitalisierung um Jahrzehnte zurück. Das können wir nicht länger verantworten. Deshalb machen wir einen Neustart – erschließen die elektronische Patientenakte für alle, machen das elektronische Rezept alltagstauglich und erleichtern die Forschung auf Grundlage von Gesundheitsdaten. Moderne Medizin basiert auf Digitalisierung und Daten. Ihre Vorteile zu nutzen, macht Behandlung besser.
Quelle: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/digitalisierungsstrategie-vorgelegt-09-03-2023.html (abgerufen am 19.03.2023)
Im Zitat befinden sich zwei Aussagen, denen ich vorbehaltlos zustimmen würde: ja, Deutschlands Gesundheitswesen hängt in der Digitalisierung um Jahrzehnte zurück. Und, ja, moderne Medizin basiert auf Digitalisierung und Daten. Natürlich ist es nahezu unverantwortlich, wenn man ihre Vorteile nicht nutzt, um die Behandlung zu verbessern. Aber ist die Digitalisierungsstrategie, zu deren Umsetzung direkt zwei Gesetzesvorhaben – das Digitalgesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) – initiiert wurden, tatsächlich der Neustart, wie der Bundesminister hier zitiert wird? Und welche Erfolgsaussichten kann man den einzelnen Aspekte der Digitalstrategie vielleicht heute schon attestieren? Wir schauen mal auf einige der Punkte aus dem Digitalgesetz:
A. Bis Ende 2024 soll die elektronische Patientenakte (ePA) für alle gesetzlich Versicherte eingerichtet werden (Opt-Out).
Am 11.05.2019 trat das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) in Kraft. Unter anderem war darin geregelt, dass gesetzlich Versicherten bis spätestens 01.01.2021 eine ePA angeboten werden müsse. Bei meiner Recherche zu diesem Beitrag am 19.03.2023 gab es laut dem Dashboard der gematik gerade einmal 635.933 ePAs in Deutschland. Das entspricht 0,77 Prozent der Gesamtbevölkerung und immer noch knapp unter 1% der gesetzlich Versicherten. Nun soll mit langem Vorlauf, was grundsätzlich richtig ist, die ePA für alle GKV-Versicherten eingerichtet werden. Lediglich wer sich abmeldet (Opt-Out), soll dann freiwillig auf den Besitz der ePA verzichten. Nur: was bringt eine eingerichtete ePA, wenn die Nutzung weiterhin ausbleibt? Sollte man sich nicht eher fragen, warum Versicherte, die seit über zwei Jahren einen gesetzlichen Anspruch auf ihre ePA haben, von diesem Anspruch keinen Gebrauch machen? Jede GKV hat übrigens eine ePA im Portfolio, am mangelnden technologischen Angebot kann es also nicht liegen.

Die Gründe, warum Patienten ihre ePA nicht nutzen, sind vielfältig. Ohne eine große Meinungsforschung zu betreiben, fallen mir auf Anhieb die folgenden drei ein:
- Mangelndes Vertrauen und Datenschutzbedenken: Patienten könnten skeptisch sein, was die Sicherheit ihrer Daten betrifft. Cyberkriminallität ist inzwischen ins allgemeine Bewusstsein gelangt. Viele könnten befürchten, dass ihre sensiblen medizinischen Informationen gehackt oder gestohlen werden könnten. Außerdem könnten einige darüber hinaus befürchten, dass die Nutzung der ePA zur Erhöhung ihrer Versicherungsprämien bei gesundheitsschädlichem Verhalten führen oder gar negative Auswirkungen auf ihre Arbeitsplatzsicherheit haben könnten. Diesen Ängste kann nur mit transparenter Kommunikation begegnet werden.
- Mangelnde Information: Sind sich überhaupt schon alle GKV-Versicherten in Deutschland bewusst, dass sie Anspruch auf eine ePA haben? Kennen sie deren Vorteile? Ohne mehr Informationen und Aufklärung zu diesem wichtigen Thema werden sich auch künftig nur wenige für die Nutzung entscheiden. Und dann haben wir zwar die eingerichteten ePAs – nur verbessern sie ohne entsprechende Nutzung die Versorgung kein bisschen, im Gegenteil, sie wären dann ein gigantischer Datenfriedhof, der mit jeder nicht eingetragenen Information lückenhafter und unbrauchbarer wird. Mit entsprechenden Anreizen ausgestattet wären übrigens auch die Apotheken vor Ort mit ihren über drei Millionen Kundenkontakten ein hervorragender Multiplikator für die ePA. Man stelle sich nur einmal vor, es gäbe eine kleine Vergütung pro eingerichteter ePA für die Apotheken. Klar, der Aufschrei aus der Ärzteschaft wäre groß – aber noch größer wäre der Nutzen für die Patienten.
- Komplizierte Nutzung: Neue Technologien, die sich durchsetzen, haben immer eine Gemeinsamkeit: sie sind idiotensicher zu bedienen. Wenn die Nutzung der ePA aber so kompliziert ist, dass insbesondere ältere Patienten oder solche mit eingeschränkter technischer Kompetenz Probleme haben, dann wird das nichts. Benutzerfreundlichkeit muss hier oberste Priorität haben.
Um die Nutzung der ePA durch Patienten sicherzustellen, müssen Nutzen und Sicherheit klar kommuniziert werden. Das ist in erster Linie eine Marketing-Aufgabe für die Regierung und die Krankenkassen. Die Programmierer der ePAs hingegen müssen gewährleisten, dass die ePAs einfach zu nutzen und zugänglich sind. Schließlich müsste auch noch an Anreizsysteme für die Patienten gedacht werden, die ePAs dann im Alltag auch mit Leben zu füllen. Vor einigen Jahren hat es die Pokemon GO App geschafft, dass ansonsten couch-surfende Teenager ihre PlayStation verlassen und an der frischen Luft nach Pokemons gesucht haben. In Zeiten, in den Menschen viel Zeit vor ihrem Smartphone verbringen, so dass es sogar das Krankheitsbild des „Smartphone-Pinky“ gibt, sollte es da doch irgendetwas geben, dass zu Gesundheit passt und nicht komplett daneben oder gar peinlich ist. Also: welchen Anreiz brauchen die gesetztich Versicherten, um endlich ihre ePA zu nutzen?
B. Das E-Rezept soll zum 1. Januar 2024 verbindlicher Standard in der Arzneimittelversorgung und die Nutzung stark vereinfacht werden (E-Rezept kann dann sowohl mit Gesundheitskarte wie mit ePA-App eingelöst werden).
Sollte das nicht schon zum 01.01.2022 verpflichtend eingeführt worden sein? Kleiner Spoiler: an den Apotheken lag’s nicht. Das weiß ich vor allem wegen der Verkaufszahlen des E-Rezept-Buches, das ich vor anderthalb Jahren mit zwei (leider) ehemaligen Kollegen verfasst habe. Eine solche Arbeitshilfe, wie wir sie damals veröffentlicht haben, kauft sich keine Apotheke nur aus Spaß an der Lektüre, wenn sie nicht fest an die Einführung des E-Rezeptes glaubt und sich darauf optimal vorbereiten möchte. Ähnlich lassen sich die Zahlen aus dem TI-Dashboard der gematik zum E-Rezept lesen. Am 19.03.2023 waren insgesamt 1.427.883 E-Rezepte eingelöst. E-Rezept-fähig sind 13.503 Apotheken, wobei nur 7.733 Apotheken auch wirklich E-Rezepte eingelöst haben. Wie gesagt: an den Apotheken liegt’s nicht.

Aber: bei aktuell lediglich 3.547 medizinischen Einrichtungen, die E-Rezepte ausstellen und 458.801 Downloads der E-Rezept-App ist es noch ein steiniger Weg, um diesen Übertragungsweg der Verordnungsdaten zum verbindlichen Standard zu machen. Ich erinnere mich noch an die Expopharm 2005 in Köln, wo ich für meinen damaligen Arbeitgeber Pro Medisoft das E-Rezept in der Apotheke vorgeführt habe. Inklusive Konnektoren, Kartenleser, HBA und allem, was nach wie vor eingesetzt werden soll. Wie bei der ePA sollte daher auch beim E-Rezept der von Lauterbach proklamierte Neustart tatsächlich vor allem eine größere Benutzerfreundlichkeit auf Seiten der Apotheken und der Patienten bedeuten. Auf Seiten der ausstellenden medizinischen Einrichtungen braucht es, ähnlich wie bei der ePA, beim E-Rezept entweder auch Anreizsysteme, um den Nutzungsgrad auszubauen. Das wäre das Zuckerbrot. Wenn das nicht zieht, dann halt die Peitsche in Form von Leistungskürzungen wegen erhöhtem Bürokratieaufwand. Und ob Lauterbach sich das traut, da bin ich sehr skeptisch. Aber evtl. liest sein Nachfolger das hier ja zufällig …
Ich jedenfalls wäre mehr als nur erleichtert, wenn nach nahezu 20 Jahren, in denen ich vom E-Rezept spreche, es endlich auch mal Versorgungsalltag werden würde und wir uns nicht von Pilotprojekt zu Pilotprojekt hangeln würden. Immerhin kenne ich seine Vorteile von meiner Schwägerschaft aus Kanada und hätte so etwas nur allzu gerne auch bei uns.
C. Ungewollte Wechselwirkungen von Arzneimitteln sollen vermieden werden, indem – in enger Verknüpfung mit dem E-Rezept – die ePA für jeden Versicherten mit einer vollständigen, weitestgehend automatisiert erstellten, digitalen Medikationsübersicht befüllt wird.
Den bundeseinheitlichen Medikationsplan (BMP) gibt es seit dem 01.10.2016 und jeder Patient, der mindestens drei zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnete, systemisch wirkende Arzneimittel gleichzeitig einnimmt oder anwendet, hat Anspruch darauf. Das Vehikel zum Transport der relevanten Arzneimittelinformationen existiert in Form des BMP also bereits seit nahezu sieben Jahren. Der Gedanke, mit ihm die ePA automatisch zu füllen, ist daher nur konsequent. Patienten, die das nicht wollen, können ja ihren Opt-Out ausüben. Ärzte bekommen das Erstellen des BMP sogar vergütet. So weit, so gut.

Scheitern könnte dieses Vorhaben letztlich jedoch dann, wenn die nicht zulasten der GKV bezogenen Arzneimittel, also vor allem Medikamente aus der Selbstmedikation oder Nahrungsergänzungsmittel, nicht ebenfalls im Medikationsplan berücksichtigt werden. Deswegen sollten solche Käufe von Patienten, die von ihrem Opt-Out keinen Gebraucht gemacht haben, ebenfalls automatisch in den Medikationsplan einfließen. Natürlich sind die Warenwirtschaftssysteme der Apotheke dazu grundsätzlich in der Lage. Allerdings liegt darin ein „Mehr“ an Leistung seitens der Anbieter, wenngleich dieses „Mehr“ nicht sonderlich groß sein dürfte. Dennoch wird sich auf Seiten der Apotheken und ihrer Dienstleister auch die Vergütungsfrage stellen. Wird diese nicht beantwortet und fehlen deswegen die OTC-Artikel im Medikationsplan, so ist er wertlos weil lückenhaft.
D. Assistierte Telemedizin soll künftig in Apotheken oder Gesundheitskiosken angeboten werden können, insbesondere auch in unterversorgten Regionen.
In anderen europäischen Ländern, wie beispielsweise in Frankreich, ist assistierte Telemedizin bereits im Versorgungsalltag angekommen. Bereits auf der Pharmagora Plus im letzten Jahr wurden unzählige Telemedizin-Terminals für den Aufbau in Apotheken ausgestellt. So war es übrigens auch dieses Jahr Anfang März wieder. Gekoppelt mit dem E-Rezept (das dann direkt in der Apotheke eingelöst werden könnte) und der ePA (über die der Telemediziner auf die komplette Anamnese und Historie zugreifen könnte), wäre das ein erhebliches Plus für ein patientenzentriertes Gesundheitswesen und könnte auch die stationären Apotheken als Dreh- und Angelpunkt für die lokale Gesundheitsversorgung weiter stärken. Apotheken sollten alleine deswegen zu genau diesem Thema eigene Angebote entwickeln und sich darum bemühen, dass es dafür auch Fördergelder seitens der Politik gibt. Der Punkt mit den Kiosken und den Telemedizinterminals scheint ein zentraler Punkt auf Lauterbachs Agenda zu sein, er wurde im Rahmen der Digitalstrategie nicht zum ersten Mal erwähnt. Also sollten Apotheken ihn mitgestalten – oder sie werden gestaltet werden.

Fazit
Die Digitalisierungsstrategie von Lauterbach erfindet das Rad nicht neu. Vielmehr versucht sie, den bereits von Jens Spahn eingeschlagenen und dem Grunde nach richtigen Weg, mit einigen Nachjustierungen weiterzugehen. Von einem Neustart zu sprechen ist daher einerseits dreist – aber vermutlich braucht es einen Neustart auch, da viele der Spahn’schen Projekte in einer Art Leichenstarre zu verharren scheinen. Was die Erfolgsaussichten betrifft, so hoffe ich, dass massiv in die Kommunikation mit und zu den Patienten investiert werden wird seitens des Gesundheitsministers. Denn nur, wenn die Nachfrage seitens der Patienten in die sinnvollen und potentiell lebensrettenden digitalen Gesundheitstools schnell signifikant ansteigt, hat die Digitalstrategie Chancen auf Erfolg. Ansonsten bleiben wir halt einfach noch bis ins nächste Jahrhundert beim Faxgerät …
Lieber Flo,
auch wenn ich Apozin und die Industrie verlasse: Dein Edikt ist immer eine willkommene Lektüre.
Würdest Du mir diese E-Mail bitte künftig an folgende E-Mail senden: manuel_brandt@me.com .
Vielen Dank!
Liebe Grüße aus Basel, ???? Manu
Gesendet von Outlook für iOShttps://aka.ms/o0ukef ________________________________
LikeGefällt 1 Person
Danke Dir, mein Lieber. Deine Mailadresse ist schon gespeichert. Alles Gute für Deine neuen Abenteuer!
LikeLike
[…] In der Apotheke: sobald die Vorteile überwiegen, wird sich das E-Rezept schnell etablieren. Die Medikation der Patienten wird ab diesem Moment im Hintergrund automatisch geprüft und Apotheker proaktiv auf Wechselwirkungen oder Unverträglichkeiten hingewiesen – selbst, wenn Teile der Arzneimittel in anderen Apotheken gekauft wurden. Auch in der Apotheke laufen Sprachassistenten mit, die Hinweise, Tipps und Tricks der Apotheker für den Patienten in leicht verständliche Sprache übersetzen und als Clips auf dessen Mobilgeräten speichern. So wissen Patienten stets, wann und wie sie ihre Arzneimittel einnehmen müssen. Betrachtet der Apotheker Anpassungen der Medikation oder Substitutionen als notwendig, so bespricht er dies mit dem Patienten. Bei dessen Einverständnis mit der Anpassung oder Substitution erfolgt eine automatische Korrektur samt Protokollierung und Kommunikation in Richtung Arzt. […]
LikeLike
[…] Subjektiv hingegen fühlt sich jeder Angehörige eines Gesundheitsberufs in der aktuellen Situation von der Politik ungerecht behandelt. Dass das für ein Gesundheitssystem nicht gut sein kann, liegt auf der Hand. […]
LikeLike