Wie können „Nudges“ in der Apotheke zum Wohle der Patienten eingesetzt werden?

Als sog. „Nudges“ werden subtile Änderungen an der Umgebungsgestaltung oder am Framing von Informationen bezeichnet, die unser Verhalten beeinflussen können und meistens auch sollen. Im gesamten Gesundheitswesen schlummert darin ein erhebliches Potenzial, um Behandlungsergebnisse für Patienten zu verbessern. In vielen anderen Bereichen des tägliches Lebens haben diese in der Disziplin Verhaltensökonomie erforschten Stupser, so die Übersetzung des englischen Begriffes „Nudge,“ schon lange Einzug gehalten.

Das bekannteste Beispiel für „Nudges“ ist sicherlich die Platzierung von Artikeln gleicher Art in Supermärkten. Dort befinden sich in aller Regel die günstigen Produkte – mit geringer Marge – in Bodennähe im Regal, während sich die teuren Premium-Marken – mit höherer Marge – etwas oberhalb der Augenhöhe befinden. Ungefähr dort jedoch, wo durchschnittliche mitteleuropäische Kunden ihren Brustkorb haben, findet man vor allem die Eigenmarken des jeweiligen Anbieters. Diese haben nämlich die aller höchste Rentabilität. Durch diese Platzierung werden Kunden subtil dorthin gesteuert, die Ware mit der besten Marge als erstes zu sehen und sie dann im Idealfall auch gleich zu ergreifen. Wer billig will, muss sich bücken, wer teuer will, muss sich ein wenig strecken.. Durch Gestaltung der Umgebung wird hier also ein Rahmen gesetzt, der zu deutlich messbaren Ergebnissen für das Unternehmen Supermarkt führt.

Die Frage, ob das moralisch gut oder eher verwerflich ist, wird in diesem Kontext immer wieder diskutiert. Natürlich könnte man im Lebensmittelhandel den Kunden auch Billigware oder gesunde, nachhaltig produzierte Lebensmittel auf Augenhöhe präsentieren. Inwieweit das wirklich die Ergebnisse für den Supermarkt und dessen Kunden optimiert, sei dahin gestellt – wichtig ist, dass solche „Nudges“ natürlich auch für einen guten Zweck eingesetzt werden können. Sie begegnen uns im Alltag permanent und beeinflussen dabei unser Verhalten. Viele große Unternehmen beschäftigen inzwischen sogar sog. „Nudge Units“ die meist von einem CBO, einem „Chief Behaviour Officer“ geleitet werden. Wäre so etwas nicht auch interessant für die Versorgung mit Arzneimitteln?

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Denn immerhin haben wir alleine im Bereich der Non-Adhärenz in Deutschland vermeidbare Kosten, die auf 7 bis 10 Milliarden Euro beziffert werden. Vom Leid der Menschen ganz zu schweigen. In den USA wiederum sterben Jahr für Jahr 125.000 Menschen, weil sie ihre Arzneimittel nicht ordnungsgemäß einnehmen oder die Therapie frühzeitig abbrechen. Und stets ist die letzte Person, mit der Patienten sprechen, bevor sie mit ihren Arzneimitteln sprichwörtlich alleine gelassen werden, eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter aus der Apotheke. Somit wären ein oder zwei richtige „Nudges“ aus der Apotheke nicht nur gut für die Gesundheit des Einzelnen, sondern sie würden auch das Sozialsystem insgesamt entlasten und sogar die Kunden für die Apotheke länger erhalten, weil sie ja adhärent sind und ihre Therapie fortsetzen.

Um also Patienten, Kunden der Apotheke, zu gewünschtem Verhalten zu bewegen, gibt es einige digitale und nicht digitale Wege, die ganz im Sinne von „Nudges“ funktionieren:

  • An vorderster Stelle, ganz analog, steht das Pillendöschen. Mit ihm können Patienten jederzeit sehen, was sie am aktuellen Tag noch einzunehmen haben und was sie schon eingenommen haben. Bei Chronikern, die ihre Arzneimittel unmittelbar aus der Fertigarzneimittelpackung entnehmen, liegt die Wahrscheinlichkeit eines ungewollten Therapieabbruchs deutlich höher als bei solchen, die sich ihre Tabletten beispielsweise wochenweise vorbereiten. Dabei macht es durchaus einen signifikanten Unterschied, ob Patienten ihr Arzneimittel täglich oder alle zwei Tage einnehmen müssen. Bei täglicher Einnahme ist es sehr einfach, eine neue Angewohnheit zu generieren, beispielsweise durch Integrieren der Tabletteneinnahme in die morgendlichen Routine im Badezimmer. Werden Tabletten nur jeden zweiten Tag genommen, ist es ungleich schwieriger.
  • Bei Anti-Baby-Pillen, die ja 21 Tage in Folge genommen werden müssen, um anschließend sieben Tage lang die Einnahme auszusetzen, werden inzwischen für die siebentägige Pause häufig Placebos verwendet (s. Bild unten). Dadurch geraten die Frauen, die die Pille nehmen, nicht aus ihrer Routine – und vergessen auch weniger häufig die Einnahme, wenn es nach den sieben Tagen wieder losgehen sollte. Auch das, Sie ahnen es, ein „Nudge.“
  • Natürlich gibt es Pillendöschen inzwischen auch halb-digital, worüber ich in diesem hier verlinkten Artikel berichtet habe. Bei diesem Gerät werden sogar Pflegekräfte und/ oder Angehörige automatisch informiert, wenn die Einnahme seitens der Patienten nicht bestätigt wird. Apotheken, die eng mit Pflegediensten und -heimen kooperieren sollten sich damit unbedingt auseinandersetzen!
  • Wie nahezu alles in unserem Leben können natürlich auch vom Smartphone sehr hilfreiche „Nudges“ kommen. Apps zur Einnahmeerinnerung spielen beispielsweise auch in meinem Leben eine große Rolle beim Nichtvergessen der Medikamenteneinnahme. Vor allem auf Reisen wäre ich ohne meine App aufgeschmissen. Wobei auch ich konstatiere, dass die beste Kombination immer noch die aus App und Pillendose ist. Wäre Eric Favre, der Erfinder von Nespresso, ein Apotheker, so würde er seinen chronisch kranken Patienten das Pillendöschen sicher schenken. Darauf finden würden sich zwei QR-Codes: einer würde zur App für die Einnahmeerinnerung verlinken, der andere zu seiner E-Commerce-Lösung oder Plattform, damit diese Schritte den Patienten möglichst einfach gemacht werden.
  • Noch besser wäre natürlich die Beseitigung einer weiteren Hürde: der Nachbestellung von Folgerezepten. In vielen Ländern dieser Welt dürfen Apotheker bei Chronikern Folgerezepte eigenhändig ausstellen und abrechnen, sofern der behandelnde Arzt darüber stets informiert ist. Die meisten dieser Länder haben natürlich bereits elektronische Patientenakten und eine funktionierende Telematikinfrastruktur. Da ist der Aufwand, um alle Leistungserbringer stets auf dem aktuellen Stand die Patienten betreffend zu halten, gleich null. Wie schön wäre es, wenn ich auch meinen Apotheker in Deutschland damit beauftragen könnte, quasi per Abonnement die Folgerezepte in meinem Auftrag beim Arzt nachzubestellen und sie mir dann mit seinem Botendienst nach Hause zu bringen. Ich stelle sogar die These auf, dass ich nicht der einzige bin, der bereit wäre, diese neue Art der pharmazeutischen Dienstleistung selbst zu bezahlen!
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Neben dem Fördern erwünschter Verhaltensweisen lassen sich „Nudges“ natürlich auch zum Verhindern unerwünschten Verhaltens einsetzen. Wir alle kennen das vom Autofahren: ein Warnton ertönt, wenn jemand den Gurt noch nicht angelegt hat. Fährt man dem Fahrzeug, das vor einem fährt, zu dicht auf, erscheint ein rot blinkendes Auto im Display. Verlässt man die Fahrspur und fährt auf die daneben liegende, vibriert das Lenkrad. Und spätestens nach drei Stunden Fahrt am Stück kommt zumindest bei meinem Fahrzeug der freundliche Hinweis, ob mir das Navigationsgerät nicht vielleicht doch die nächste Raststätte suchen soll, damit ich dort einen Kaffee zu mir nehmen kann. Auch diese Methoden lassen sich für die Therapietreue der Patienten adaptieren:

  • In den Fokus rücken wird hier vor allem die Medikationsanalyse, welche nach einem Bericht der AZ vom 09.05.2022 (Paywall) zur pharmazeutischen Dienstleistung werden wird. Bei der Analyse werden Apotheken immer wieder Unverträglichkeiten, Wechselwirkungen und Lebensumstände der Patienten feststellen, die schlecht für die Adhärenz sind. Müssen beispielsweise Arzneimittel mit zeitlichem Abstand zueinander eingenommen werden? Dann sind die eben so gepriesenen Pillendöschen mit einem Fach pro Tag doch nicht mehr das Mittel der Wahl. Vielmehr können hier beispielsweise Schlauchblister mit aufgedruckter Uhrzeit oder Pillenroboter, die zur richtigen Zeit dispensieren, zum Einsatz kommen. Gepaart mit einer richtig eingestellten App, die stets zur richtigen Zeit an die Einnahme erinnert, hat man so schon die erste Klippe umschifft.
  • Medikamente, die sich nicht mit Kaffee oder Milch vertragen, sollten natürlich nicht in die morgendliche Routine integriert werden, sondern eher in Richtung Abend verlagert werden. Auch hier kann und sollte der entsprechende „Nudge“ von der Apotheke kommen. Die Einnahme-App hilft auch hier.
  • Schließlich ist auch der Herdentrieb bzw. der Gruppenzwang ein essentieller Bestandteil von effektiven „Nudges.“ Das betrifft vor allem die Kommunikation mit den Patienten. Statt
    nehmen Sie morgens, mittags und abends je eine Tablette, dann sind Sie schnell wieder auf den Beinen
    sorgt beispielsweise folgende Aussage für eine größere Compliance:
    Patienten wie Sie, die regelmäßig morgens, mittags und abends eine Tablette eingenommen haben, sind in aller Regel drei Tage früher auf den Beinen, als Patienten, die ihre Medikamente unregelmäßig zu sich nehmen.“
    Klar, zu welcher Gruppe sich die meisten Patienten zugehörig fühlen dürften.
  • In eine ähnliche Richtung gehen auch die Argumente, welche gegenüber Impfskeptikern angewandt wurden und nach wie vor werden. Auch hier werden statistische Werte verwendet, um bei den Skeptikern eine Art FOMO („fear of missing out“ – die Angst, etwas zu versäumen. Ja, das ist genau das Phänomen, das uns auch dazu verleitet, stundenlang auf Social Media rumzuhängen oder ganze Staffeln auf Netflix am Stück zu kucken. Gut zu wissen, dass diese uns Menschen wohl angeborene Wesensart auch für etwas Sinnvolles eingesetzt werden kann.)
  • Schließlich dürfte in dem oben genannten Fall, in welchem die Einnahme vom Arzt alle zwei Tage verordnet wurde, auch ein Gespräch mit eben dem Arzt zielführend sein. Denn vielleicht ist ja auch die Halbierung der Dosis bei dann täglicher Verabreichung eine Option. Als „Nudge“ würde das dem Patienten zugute kommen – bei ansonsten unveränderten Rahmenparametern.

Pharmazeutische Dienstleistung gepaart mit „Nudges“ und einigen digitalen und analogen Hilfsmitteln: für mich klingt das nach einem wichtigen Schritt in Richtung einer noch besseren und vor allem menschlicheren Versorgung mit Arzneimitteln. Zwei Drittel der Leser dieses Beitrags haben übrigens in den ersten zwei Tagen, nachdem sie ihn gelesen haben, mit dem Team darüber gesprochen, welche „Nudges“ sie in der Apotheke zum Wohle ihrer Patienten einsetzen können!