Digitalisierung – um jeden Preis?

Neue digitale Lösungen, die (wahlweise) total disruptiv, neuartig oder gar revolutionär sind, haben Hochkonjunktur. Wie spannend, interessant – und vor allem innovativ – sie wirklich sind, muss letztlich für jeden Einzelfall bewertet werden. Aber tatsächlich frage ich mich immer häufiger, ob wir denn jetzt wirklich alles um jeden Preis digitalisieren müssen.error-102074_1920

Natürlich steht nicht nur die Welt allgemein, sondern vor allem die der Apotheken vor tiefgreifenden Umwälzungen – so zumindest die herrschende Meinung der Leitmedien unserer Branche. Vertiefen wir diese Behauptung am Beispiel des Versandhandels: im Bereich der Arzneimittel ist er derzeit der einzig wachsende Vertriebsweg, während die Anzahl der stationären Apotheken seit einigen Jahren konstant rückläufig ist. Laut Handelsverband Deutschland (HDE) ist der Onlinehandel (insgesamt, nicht auf Apothekenprodukte beschränkt!) allein im Jahr 2018 um 9 Prozent gewachsen. Inzwischen wird jeder zehnte Euro im deutschen Einzelhandel online erlöst – bei Mode, Spielwaren, Büchern oder Elektronik sogar schon bis zu 31 Prozent.

Aber ich persönlich sehe zumindest in diesem Wandel keine schlagartig einsetzende Disruption. Vielmehr handelt es sich um eine Weiterentwicklung dessen, was Kunden als komfortabel empfinden. Angekündigt hat sich diese Evolution übrigens schon seit langer Zeit. Vielleicht haben Sie auch schon die dritte Staffel von Stranger Things auf Netflix gesehen. Die Handlung spielt im Jahr 1984 und in einer der ersten Folgen demonstrieren die Bürger der fiktiven US-Kleinstadt Hawkins gegen die Eröffnung eines Einkaufszentrums, einer Shopping-Mall. Proteste wie diese hat es damals auch in Wirklichkeit häufig gegeben, genährt von der Angst, dass Arbeitsplätze vernichtet werden und die Innenstädte verwaisen würden. Heute, 35 Jahre später, wissen wir, dass zumindest die Befürchtung mit den Innenstädten nicht nur in den USA, sondern auch hierzulande größtenteils begründet war. Den kleinen, unabhängigen Einzelhändler gibt es nicht mehr, dafür aber massenweise Handyläden, Low-Budget-Modeketten und dazwischen die unvermeidliche Systemgastronomie.

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Typische Innenstadt – hier am Beispiel von Augsburg

Taktgeber für diese Entwicklung waren aber nicht die Stadtplaner, welche die Mall genehmigt haben, sondern die Kunden und deren Verständnis von Komfort. Logisch: warum in die Innenstadt fahren, wenn es in der Mall bzw. im Einkaufszentrum alles gibt, inklusive Parkplätze und Klimaanlage? Und diese Entwicklung – in den USA ist sie über 35 Jahre alt – geht jetzt eben in die nächste Runde: warum sollte ich für meine Bedarfskäufe in die überfüllte Mall oder die Innenstadt mit ihren engen Straßen und den nicht verfügbaren Parkplätzen fahren, wenn ich doch genau weiß, was ich benötige und das bequem online bestellen kann? Den zeitlichen Vorlauf von 1-2 Tagen, bis die Lieferung zu Hause eintrifft, kann man einkalkulieren …

Apotheken waren davon bis jetzt immer weniger stark betroffen als der sonstige Einzelhandel. Solange genügend Rezepte in die Offizin kamen, bestand eine valide Geschäftsgrundlage. Um ein Rezept auf Papier zu erhalten, muss der Patient persönlich in der Praxis erscheinen. Optimal für Apotheken in Laufweite der Praxis – bis heute. Und auch das e-Rezept sehe ich in diesem Zusammenhang nicht so dramatisch, wie es gelegentlich dargestellt wird. Klar, das Papier als Datenträger wird mit der Zeit verschwinden. Aber solange Patienten die Praxis aufsuchen müssen, um ihre Verordnung zu bekommen, und sich daneben eine Apotheke befindet, die das Medikament auch noch vorrätig hat – welchen Anreiz haben Patienten dann, das Rezept an den Versand zu geben?

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Ärzte in der Umgebung? Alles gut für diese Apotheke!

Kritisch sehe in diesem Zusammenhang vielmehr die Kombination aus telemedizinischer Fernbehandlung und dem e-Rezept. Sobald sich Patienten zu Hause über Videoübertragungen untersuchen lassen und der Arzt daraufhin eine digitale Verordnung ausstellt, gibt es keinen Standortvorteil mehr. Dann zählt allein die Sichtbarkeit im Netz und eine möglichst kosteneffiziente, ausgefeilte Bestell- und Lieferlogistik. Genau hier müssen digitale Lösungen für Apotheken ansetzen: indem sie den Apotheken eben diese Sichtbarkeit beim Kunden beschaffen (oberste Priorität!) und gleichzeitig im Hintergrund dafür sorgen, dass die Apotheke diese Kunden auch bestmöglich versorgen kann. Ob letzteres dann tatsächlich durch den Versand von Paketen, durch einen (lokal gemeinsamen, bei Foodora oder Lieferando abgeschauten?) Botendienst oder meinetwegen auch mit Drohnen geschieht, ist eine andere Diskussion, in die auch Themen wie z.B. die Patientensicherheit hineinspielen. Sie hier zu vertiefen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

Und was die Sichtbarkeit betrifft, so wäre die beste Lösung ein einheitlicher Markenauftritt nach außen, den alle Konsumenten mit tollen, digitalen Gesundheitsangeboten aus der Apotheke assoziieren können. Ähnlich wie bei Serien (Netflix), Büchern (Amazon) oder Musik (Spotify). Welches Studio bei Netflix, welcher Verlag bei Amazon und welches Plattenlabel bei Spotify den Inhalt tatsächlich produziert hat, interessiert den Nutzer doch nicht wirklich. Entscheidend ist alleine der Mehrwert, den ihm die jeweilige Plattform bietet.

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Plattformen: binden Kunden mit echten Mehrwertangeboten

Denken Sie in diesem Zusammenhang bitte auch an die Folgeverordnungen. Spätestens wenn Chroniker nicht mehr jedes Wiederholungsrezept persönlich in der Praxis abholen müssen, sollte ein digitales Portal der deutschen Apothekerschaft einsatzbereit sein. Hier geht es um nicht weniger als Ihre Existenzgrundlage.

Gleichzeitig darf bei all dem Digitalisierungswahn auch die Rentabilität nicht aus dem Auge verloren werden. Das britische Wirtschaftsmagazin Economist hat kürzlich veröffentlicht, dass alleine zwölf der bekanntesten „Unicorns“ (also Unternehmen mit einer Bewertung von 1 Milliarde US-Dollar oder mehr) zusammen mehr als 14 Milliarden US-Dollar Verlust gemacht haben. Darunter befanden sich mit Uber und AirBnB auch zwei ebenso bekannte wie kontroverse Unternehmen, die in keinem Vortrag über Digitalisierung als Inbegriff von Disruption fehlen dürfen. Aber vielleicht ist die Strategie der schnellen Expansion zur monopolistischen Marktbeherrschung eine Milchmädchenrechnung und Amazon, das fast 20 Jahre lang nur rote Zahlen geschrieben hat, bevor vor 2 Jahren der Turnaround gelang, ist lediglich die Ausnahme von der Regel. Und diese Regel lautet, dass Unternehmen langfristig profitabel sein müssen, wenn sie am Markt bestehen wollen.economy-3972328_1920

Digitalisierung alleine um der Digitalisierung willen hilft also niemandem. Genauso wenig hilfreich sind allzu riskante Geschäftsmodelle. Im Gegenteil: beides kann zum Eigentor werden, weil den Kunden schlimmstenfalls suggeriert wird, dass es „die Apotheken“ immer noch nicht verstanden haben. Neue digitale Lösungen für Apotheken haben nur dann eine Existenzberechtigung, wenn sie echten Mehrwert für die Patienten bieten – oder die Prozesse in der Apotheke optimieren und damit die Kosten für die Apotheke reduzieren. Für beide Kriterien gibt es übrigens schon heute äußerst vielversprechende Ansätze, auf deren weitere Entwicklung man sehr gespannt sein darf. Trotzdem wird es nicht lange dauern, bis die nächste digitale Sau durchs Apothekendorf getrieben wird. Je nachdem, ob sie Digitalisierung als Selbstzweck sieht oder echten Nutzen für Sie und/ oder Ihre Kunden bietet, wird sie sich dann vielleicht auch zu den vielversprechenden Lösungen gesellen dürfen.