Frei nach Charles Dickens
Strophe I: Marleys Geist
Vor genau sieben Jahren in der Weihnachtsnacht verstarb Jacob Marley, der einzige Freund des Mannes, um den es sich in dieser Geschichte dreht. Dieser Mann namens Ebenezer Scrooge war seitdem der einzige Inhaber der „Scrooge und Marley Apotheken OHG.“ Denn so hieß die Apotheke noch immer, obwohl Herr Marley bereits verstorben war. Mit Scrooge zusammen arbeitete dort nur noch seine PTA Roberta Cratchit.
Ebenezer Scrooge war der wohl unfortschrittlichste Mensch, den man sich vorstellen konnte. Er war so unfortschrittlich, dass er sogar an diesem Tag des Weihnachtsfestes den Außendienstmitarbeiter seines Rezeptabrechners wieder fortschickte, der ihm kostenfrei eine App anbieten wollte, mit der seine Apothekenkunden Rezepte vorab in der Apotheke bestellen konnten. Nicht einmal in seiner Erfa-Gruppe war er neuen Technologien gegenüber aufgeschlossen. Denn diese lud ihn auch dieses Jahr wieder zum Weihnachtsfest in ihre WhatsApp-Gruppe ein. Scrooge jedoch verabscheute Digitalisierung, denn er sah in ihr keinen Nutzen.
In dieser Weihnachtsnacht erschien Scrooge eine grauenvolle Gestalt. Es war der Geist seines Freundes Marley. Er war mit einer langen, schweren Eisenkette behangen, an der Faxgeräte und Retaxationsschreiben hingen. „Dies, Scrooge,“ schrie er, „dies ist die Kette meines Lebens, die Kette, die ich mir selbst geschmiedet habe, und die ich nun auf immer tragen muss!“
Scrooge erschrak fürchterlich. „Aber warum? Du warst wie ich ein guter Apotheker und Geschäftsmann!“
„Ein Geschäftsmann, ja, aber doch kein Apotheker, der Innovationen zum Wohle seiner Patienten einzusetzen verstand! Auch du besitzt eine solche Kette. Nur ist deine schon um einiges länger! Du sollst heute Nacht jedoch die Gelegenheit bekommen, mein schreckliches Schicksal nicht zu teilen. Nutze die Chance, welche die drei Geister, die dich heute Nacht besuchen werden, dir geben!“
Mit diesen Worten verschwand Marleys Geist.
Strophe II: der erste Geist
Kurz nach Mitternacht bereits war der erste Geist auch schon da. Er war eine komische Figur, Kind und Greis zugleich. Mit weicher Stimme stellte er sich als „Geist der vergangenen Weihnacht“ vor und nahm Scrooge mit in die Vergangenheit.
Als erstes landeten sie in einer Apotheke des Mittelalters. Der Pharmazeut und seine Helfer gingen in die Kräutergärten und Wälder, um Zutaten für Tees, Salben und Pastillen zu sammeln. Diese bereiteten sie im Labor zu und verkauften sie an ihre Patienten. Die Patienten waren ihnen wichtig, denn es waren Menschen aus der selben Gemeinschaft wie sie und der Apotheker konnte ihnen meistens dabei helfen, wieder gesund zu werden. Als aber die große Pest ausbrach, war auch der Apotheker machtlos und viele seiner Helfer gehörten sogar ebenfalls zu den Toten.
Scrooge wurde auf einmal bewusst, dass Apotheker, genau wie er, ihren Beruf schon immer aus dem Bedürfnis und der Überzeugung heraus gewählt hatten, anderen Menschen helfen zu können. Jedoch waren viele Leiden mit alten, tradierten Methoden nicht heilbar und er verspürte eine tiefe Traurigkeit darüber, dass den Menschen früher die Errungenschaften des Fortschritts – wie Antibiotika oder Einweghandschuhe – noch nicht zu Verfügung gestanden hatten. Scrooge flehte den ersten Geist an, wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen. Todmüde gelangte er daraufhin wieder in sein Schlafzimmer.
Strophe III: der zweite Geist
Kaum war Scrooge wieder zuhause, bekam er Besuch vom zweiten Geist. Er bezeichnete sich als „Geist der diesjährigen Weihnacht“ und erklärte ihm, dass es für jedes Jahr einen Weihnachtsgeist wie ihn gab. Mit diesem ging Scrooge auf Facebook und Instagram und beobachtete die vielen Menschen, die sich gegenseitig von überall auf der Welt fröhliche Weihnachten wünschten und von Herzen froh darüber waren, dass in diesem Moment irgendwo auf der Welt jemand an sie dachte.
Auch eine Apotheke der Gegenwart besuchten sie. Sie sah ganz anders aus als die Scrooge und Marley Apotheken OHG, die mehr der Apotheke des Mittelalters ähnelte. Die Helfer des Apothekers der Gegenwart gingen zum Beispiel keine Kräuter mehr sammeln, sondern Großhandlungen lieferten Ware, die in einen Kommissionierautomaten eingelagert wurde. Computer sorgten dafür, dass stets die richtigen Arzneimittel in der richtigen Menge an Lager war – sofern sie natürlich überhaupt lieferbar waren. Wenn Menschen durch Bakterien oder Viren erkrankten, gab es dagegen meist ein Mittel, das in einer großen Fabrik hergestellt wurde und das in den meisten Fällen sogar eine Krankenkasse bezahlte und nicht der Patient selbst. Viel hatte sich getan seit dem Mittelalter!
Plötzlich aber standen sie in der kleinen Wohnung seiner Mitarbeiterin Roberta. Dort sahen sie auch deren Kinder, insbesondere ihren jüngsten Sohn Tiny Tim, der an Diabetes litt und seine Medikamente zu unregelmäßig einnahm. Die Ärzte würden ihm wohl seine Füße amputieren müssen, wenn sich für dieses Problem keine Lösung finden würde. Trotz alledem war die Familie froh und harmonisch, sie feierten das Weihnachtsfest, beschenkten sich und verzichteten auf zuviel Fett und Zucker in ihren Speisen.
Strophe IV: der dritte Geist
Der zweite Geist brachte einen vor lauter Mitleid sehr aufgewühlten Scrooge nun nach Hause. Und es dauerte nicht lange, da tauchte auch schon der dritte Geist auf.
Der „Geist der zukünftigen Weihnacht“ sprach kein Wort mit ihm. Er führte ihn lediglich in eine Apotheke der Zukunft. Dort übertrugen Sensoren und Wearables Daten der Patienten an geschützte EDV-Systeme der Apothekerschaft. In der Apotheke standen 3D-Drucker, die patientenindividuell dosierte Arzneimittel ausdruckten. Dafür, so verstand Scrooge, benötigten sie auch die Daten der Patienten. Kleine Kinder, die an Diabetes litten, bekamen in der Zukunft eine App auf ihr Smartphone. Wenn Sie zur richtigen Zeit Insulin spritzten und so einen konstanten Glucosewert im Normbereich einhalten konnten, konnten sie in der App Fantasiemonster, sogenannte Pokémons, fangen und untereinander austauschen. Und auch die Tabletten aus dem 3D-Drucker hatten für Kinder ganz individuelle Formen: Jungs nahmen lieber Dinosaurier und Logos von Fußballvereinen ein, bei Mädchen war die Adhärenz bei Pillen in Einhorn-Form und in Prinzessinnengestalt am besten. Und dadurch, dass sich alle an ihre maßgeschneiderte Therapie halten konnten, hatte sich erneut viel getan seit der Gegenwart!
Als sie weiter gingen, erkannte Scrooge, dass sie sich auf dem Weg in die Straße befanden, in der auch die Scrooge und Marley Apotheken OHG ihren Standort hatte. Was hatte das zu bedeuten? Sie hörten, wie sich ein paar Leute auf der Straße abfällig über ein kürzlich geschlossenes Geschäft unterhielten. Auch in der Zukunft gingen die Menschen am Vormittag des Heiligen Abends noch schnell die letzten Geschenke für ihre lieben Verwandten im stationären Handel kaufen. Der dritte Geist jedoch deutete nur still auf ein Geschäft, vor dem keine Menschenseele stand. Scrooge trat näher heran – und ihn traf die Erkenntnis wie ein Blitz, denn er stand vor den für immer geschlossenen Toren seiner eigenen Apotheke.
Strophe V: das Ende (oder auch nicht)
Als Scrooge am nächsten Morgen aufstand und zum Notdienst in seine Apotheke ging, war er wie ausgewechselt. Er schwor sich, seine Meinung zur technologischen Veränderung gründlich zu überdenken.
Und so folgten gleich an diesem Tag eine ganze Reihe guter Taten. Er schickte einen Sensor zum Messen des Blutzuckers und ein Smartphone an Robertas Familie. Auf diesem Smartphone konnten Tiny Tim und seine Eltern in einer App sehen, wann die nächste Gabe des Insulins fällig war und bekamen so zügig sein Diabetes in den Griff. Am nächsten Werktag vereinbarte er außerdem für sich und seine Angestellte eine Fortbildung beim Hersteller der zum Sensor gehörenden App, damit sie Kinder wie Tiny Tim in Zukunft optimal beraten und versorgen konnten.
Er trat auch direkt der WhatsApp-Gruppe seiner Erfa-Kollegen bei. Hierdurch wurde er zum Erstellen einer eigenen Webseite für die Apotheke animiert, legte sich ein Facebook-Konto für die Scrooge und Marley Apotheken OHG an und wurde dort sogar Mitglied von der Gruppe „die digitale Apotheke.“ Schließlich abonnierte er auch den Blog „das Edikt von Cupertino.“
Er hatte keinen ferneren Verkehr mehr mit Geistern, sondern lebte von jetzt an nach dem Grundsatz digitaler Aufgeklärtheit; und immer sagte man von ihm, er wisse digitale Tools recht zum Nutzen seiner Kunden einzusetzen, wenn es überhaupt ein Mensch wisse. Möge dies auch in Wahrheit von uns allen gesagt werden können. Und so schließen wir mit Tiny Tims Worten: „Gott segne jeden von uns.“
[…] Weihnachten – die Zeit, in der Wünsche in Erfüllung gehen. Und wer von uns Eltern wünscht sich nicht, dass die eigenen Kinder ihr Leben lang von Krankheiten verschont bleiben? Dass sie überdurchschnittlich intelligent sind und gut aussehen? Dass sie, je nach persönlicher Vorliebe, eine ausgeprägte kreative Ader haben oder durch einen scharfen, analytischen Verstand bestechen? […]
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