Der Insulin-Automat

Manchmal finde ich die Diskussion um Digitalisierung im Gesundheitswesen ziemlich abstrakt. Klar, Daten sind wichtig, Geräte werden immer kleiner und täglich kommen neue Technologien hinzu. Aber sind das letztlich nicht alles Binsenweisheiten? Gibt es denn nichts Konkretes, irgendein Beispiel, an dem sich der Nutzen für den Patienten auf den ersten Blick erschließt?

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Beispiel für ein analoges Tool, dessen Nutzen sich (vor allem bei Regen) sofort erschließt.

Ende letzten Jahres veröffentlichte die Lebensmittelüberwachungs- und Arzneimittelbehörde der Vereinigten Staaten, die U. S. Food and Drug Administration (kurz FDA), eine Pressemitteilung mit folgendem, etwas sperrigen Titel: „Die FDA genehmigt den ersten interoperablen, automatisierten Insulindosierer, der Patienten eine größere Auswahl bietet, ihr individuelles Diabetes-Managementsystem anzupassen.Diese Pressemitteilung wurde am 13.12.2019 veröffentlicht – wahrlich ein sehr guter Freitag, der 13. für alle Typ-1-Diabetiker in den USA.

Diabetes beeinträchtigt bekanntlich die Fähigkeit des Körpers, das Hormon Insulin herzustellen oder richtig zu verwenden, welches den Blutzucker (Glukose) reguliert. In Deutschland liegt die Prävalenz bei fast 10%Tendenz steigend. Bei Diabetes vom Typ 1, das früher auch als Jugenddiabetes bezeichnet wurde, produziert die Bauchspeicheldrüse der Betroffenen wenig oder gar kein Insulin. Diese Patienten müssen ihr Insulin also von einer externen Quelle (meist Injektionen aus Pens) beziehen. Derzeit müssen viele Patienten mit Diabetes die Insulinmenge, die sie über den ganzen Tag verteilt wiederholt messen, manuell anpassen und permanent neu berechnen und einstellen. Jährlich gibt es in Deutschland 15 Neuerkrankungen je 100.000 Einwohner an Typ-1-Diabetes, derzeit geht man von gut 300.000 Betroffenen deutschlandweit aus.

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Ein aus meiner Kindheit sehr vertrauter Anblick

Auch bei meiner Mutter wurde diese Erkrankung diagnostiziert, als sie mitten in ihren 30-ern war. Bis an ihr Lebensende musste sie ihren Glukosewert durch Blutentnahme an den Fingerkuppen mehrmals täglich messen, die benötigte Insulinmenge den Mahlzeiten anpassen – und wehe, das Essen im Restaurant kam nicht zur richtigen Zeit. Dann konnte es sogar passieren, dass der drohenden Hypoglykämie nur durch rasches Essen von Traubenzucker begegnet werden konnte. Die eigentliche Mahlzeit konnte sie dann, wenn überhaupt, nur noch teilweise essen – und von Genießen konnte dann längst schon keine Rede mehr sein.

Werfen wir also einen genaueren Blick auf das neu genehmigte Diabetes-Managementsystem aus der bereits erwähnten Pressemitteilung vom 13.12.2019. Es besteht aus zwei Komponenten, zum einen der sog. Alternate Controller-Enabled (ACE) Insulinpumpe (diese ist von außen, beispielsweise durch ein Smartphone, steuerbar), zum anderen einem in den Körper integrierten System zur kontinuierlichen Glukosemessung (iCGM, vom Englischen „integrated continous glucose measure.“) Ergänzt man diese beiden Komponenten jetzt noch um die im Dezember von der FDA genehmigte Software zur Steuerung eben dieser beiden Komponenten, ergeben sie ein vollständig automatisiertes Insulindosierungssystem (AID).

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AID – der Autopilot für Typ-1-Diabetiker

Neu ist hierbei, dass die nun in den USA genehmigte Software „interoperabel“ ist. Sie kann also grundsätzlich mit beliebigen kompatiblen ACE-Pumpen und iCGM-Systemen eingesetzt werden. Laut der US-Behörde soll hierdurch die Sicherheit und Wirksamkeit innovativer und anpassbarer Diabetes-Managementsysteme gewährleistet werden, mit denen Patienten ihre Behandlung besser auf ihre individuellen Bedürfnisse anpassen können. Schnellerer Zugang zu innovativen Technologien für Patienten sowie die Verbesserung ihrer Lebensqualität sind die hiervon ausgehenden Versprechen.

Ebenfalls neu ist die nahezu vollständige Autonomie des Systems. Der jetzt genehmigte Controller ist in dieser Hinsicht tatsächlich völlig neuartig. Er kann die Zufuhr von Insulin an den Patienten nämlich automatisch erhöhen, verringern und sogar aussetzen – und zwar basierend auf individuell erfassten Daten (nämlich dem Insulinabgabeverlauf, den iCGM-Werten sowie der vorhergesagten Entwicklung von Glukosewerten). Zusätzlich kann er sogar automatisch präventiv eine bestimmte Insulinmenge abgeben, sobald der Algorithmus die drohende Überschreitung eines vorab festgelegten Grenzwerts für den Blutzucker kalkuliert. Ein solches in sich geschlossenes System nennt man auch „closed-loop-system.“ In Deutschland ist ein solches seit 2019 zwar ebenfalls verfügbar – jedoch nur als Hybrid-AID, bei dem die basale Insulingabe, also der Grundbedarf, automatisch abdeckt wird. Zur Abdeckung von Mahlzeiten muss bei Hybriden noch manuell injiziert werden.Digitalisierung Apotheke Insultin Diabetes ERezeptVor Genehmigung wurde das neue System von der FDA intensiv auf Zuverlässigkeit, falsche und nicht leitliniengerechte Dosisberechnungen und die Möglichkeit von Fehlbedienungen durch den Anwender geprüft. Diese Hürden wurden allesamt genommen. Ganz ohne Risiko gibt es solche Innovationen jedoch nicht, man denke nur beispielsweise was passieren würde, wenn die verwendeten Geräte einen Kommunikationsverlust erleiden oder evtl. vorhandene aber noch nicht entdeckte Sicherheitslücken von Cyberkriminellen durch einen Hackerangriff ausgenutzt werden. Für all diese Kriterien wurden jedoch im Genehmigungsverfahren Richtlinien festgelegt. Werden diese von nachfolgenden Geräten desselben Typs eingehalten, greift sogar ein verkürztes Zulassungsverfahren in den USA.

In dieser Pressemitteilung wurden sie für mich spürbar, die Vorteile der Digitalisierung. Kleine Geräte, die untereinander Informationen – Daten – über klar definierte Parameter austauschen und dann automatisch die Therapie zum Wohle des Patienten anpassen. Das klingt nach einer Vision, wird aber im Laufe diesen Jahres für Betroffene in den USA Realität werden. Auf die langfristigen Ergebnisse darf man gespannt sein: werden die Schwankungen im Blutzuckerspiegel durch diese Technologie tatsächlich nachhaltig ausgeglichen? Wird den Patienten Arbeit abgenommen – oder begeben sie sich zu sehr in Abhängigkeit von einer Maschine? Digitalisierung Apotheke Diabetes E-RezeptUnd jetzt mal weiter gesponnen: wenn das AID-System die durchschnittliche Dosis „seines“ Patienten kennt, dann weiß es auch, wann Insulin nachbestellt werden muss. Dies könnte in Zukunft mit dem benötigten Vorlauf an die Apotheke übermittelt werden. Die Apotheke wiederum könnte dann automatisiert kurz vor Eintreten des Bedarfs beim Großhandel bestellen und müsste diese temperatursensible Ware nicht dauerhaft an Lager haben, mit dem Risiko des Verderbens durch Hitzwellen im Sommer. Und beim Großhandel könnte man den Bedarf aufgrund dieser Bestellungen auf die Gesamtpopulation hochrechnen, den Herstellern zur Verfügung stellen und dort die Produktion dem vorherberechneten Bedarf anpassen, statt „auf Halde“ zu fertigen. In dieser Technologie steckt noch enormes Potential!

Ich habe selbst miterlebt, welche Einschränkungen Typ-1-Diabetes für meine Mutter bedeutete. Die Frage, ob ein solches AID-System für sie eine Verbesserung der Lebensqualität gewesen wäre ist sehr schnell beantwortet: ja natürlich! Die Beschränkungen bei der Ernährung hätte es zwar nicht beseitigen können – aber zumindest hätte sie nicht mehr so viel Zeit mit der reinen (nicht-kurativen) Verwaltung ihrer Krankheit aufwenden müssen.