Am Anfang der Entwicklung von Arzneimitteln und Medizinprodukten stehen heute stets die präklinischen Studien. Dabei wird die Wirksamkeit zunächst in Labors und Reagenzgläsern, also in vitro, plausibilisiert. Anschließend wird, meist am lebenden Objekt durch Tierversuche, in vivo an der Wirksamkeit und Sicherheit für Menschen geforscht. Können sowohl die in-vitro- als auch die in-vivo-Studien erfolgreich zum Abschluss geführt werden, erfolgt eine Entscheidung darüber, ob das Ergebnis auch für Menschen verfügbar gemacht werden kann und sollte. Dies wird dann in klinischen Studien überprüft, die meist in vier Phasen unterteilt sind. In der dritten Phase wird das in der Entwicklung befindliche Produkt an einer großen Anzahl von Menschen getestet. Wenn es an dieser Stelle scheitert, ist der finanzielle Verlust meist gigantisch. Abgesehen davon sind meistens auch zehn Jahre oder mehr seit dem Beginn der Forschungen vergangen – ohne verwertbares Ergebnis. Nur in ganz seltenen Fällen gelingt es dann noch, ein Medikament für andere Indikationen oder Zwecke zu verwenden als ursprünglich geplant und so die bereits getätigten Investitionen noch zu retten. Wie Sie sicher wissen, wurde beispielsweise Sildenafil eher zufällig von Pfizer entdeckt, als während der klinischen Studien an einem Mittel, welches eigentlich zur Behandlung von Bluthochdruck und Mandelentzündung vorgesehen war, die männlichen Probanden deutlich sichtbare Zeichen freudiger körperlicher Erregung zeigten. Sildenafil wurde schließlich unter dem Markennamen Viagra als Mittel gegen erektile Dysfunktion zugelassen.

Mit dieser bewährten Herangehensweise lassen sich die Sicherheit und die Wirksamkeit für eine große Grundgesamtheit an Menschen sehr gut ermitteln. Als Zulassungsvoraussetzung für neue Wirkstoffe sind diese Phase-3-Studien daher durchaus relevant und unverzichtbar. Allerdings haben sie auch einen Nachteil, denn sie bilden vor allem ein statistisches Mittel ab, gehen aber auf individuelle Parameter einzelner Probanden nicht ein. Seltene Nebenwirkungen werden so mitunter in dieser Phase gar nicht entdeckt.
Parallel dazu werden Computer immer leistungsfähiger und sind in der Lage, Unmengen an Daten zu speichern. Damit lassen sich auch die unterschiedlichsten physiologischen Merkmale, der Schweregrad von Erkrankungen und Begleiterkrankungen bis hin zu individuellen genomischen Informationen einer Vielzahl von – virtuellen – Patienten in digitaler Form simulieren. Diese Variablen können dann ihrerseits wieder mutiert und variiert werden, bis sie als virtuelles Abbild einer Vielfalt entsprechen, wie sie eine großen Zahl an reellen Studienteilnehmern auch hätte. Diese virtuellen Probanden werden nun einer ebenfalls virtuellen Behandlung unterzogen. Dazu wird im Rahmen von Computersimulationen beobachtet, wie sich das zu testende Produkt sowohl in der statistischen Gesamtheit, als auch auf individueller Ebene verhält. Wird die gewünschte Wirkung entfaltet ohne dass die Nebenwirkungen zu einer negativen Risikobewertung führen würde?

Die Vorteile solcher in-silico-Studien sind vielfältig:
- Die Dauer und der Umfang klinischer Studien könnten reduziert werden. Merkmale, die bei künftigen Patienten zu erhöhtem Risiko führen, ließen sich in-silico bereits im Vorfeld ermitteln und könnten frühzeitig in die Wirtschaftlichkeitsberechnung der Pharmafirmen einfließen. Ein so frühes Ansetzen in der Wertschöpfungskette hätte natürlich positive Auswirkungen auf die globale Gesundheitsversorgung.
- Auch nach oder während der dritten Phase klinischer Studien können in-silico-Tests dazu beitragen, dass die Interpretationsmöglichkeiten von auftretenden Nebenwirkunden, Interaktionen mit der Physionomie der Probanden oder deren Co-Medikation datenbasiert verfeinert werden. Darin liegt auch ein enormer Beitrag zur Arzneimittelsicherheit nach Freigabe des jeweiligen Arzneimittels. Außerdem bekommt man dadurch bereits vor der Phase 3 Ausschlußkriterien für ungeeignete Probanden, die sich einem erhöhten Risiko durch ihre Teilnahme aussetzen würden.
- Mittelfristig wäre absolut wünschenswert und im Hinblick auf mehr Nachhaltigkeit in der medizinischen Versorgung sogar erstrebenswert, dass auf Tierversuche komplett verzichtet wird. In einem Fall von Closed-Loop-Systemen für Diabetiker wurde dies behördlicherseits sogar bereits vor über 10 Jahren akzeptiert. Anders als die Tiere aus den Laborversuchen könnten die virtuellen Probanden wieder und wieder verwendet werden. Auch hierin liegt eine erhebliche Kosteneinsparung.
- Stellt sich in einer späten Phase der traditionellen klinischen Studien heraus, dass ein Produkt ungeeignet ist, muss es meist verworfen werden. Bei in-silico-Studien hingegen können einfach einige Parameter am virtuellen Pendant des Produkts geändert werden. Die Tests gehen dann weiter, bevor weitere große Investitionen getätigt werden. Auch das erhöht die Patientensicherheit und reduziert den Kostendruck.
Die Verheißungen klinischer in-silico-Studien sind also hoch. mRNA-Impfstoffe, wie sie heute insbesondere im Kampf gegen die COVID-19-Pandemie eingesetzt werden, basieren zu einem großen Teil auf in-silico-Studien. Denn bei der Entwicklung dieser Impfstoffe wurden die genomischen Informationen der Spikes und nicht die abgetöteten infektiösen Pathogene selbst verwendet, um den Impfstoff zu entwickeln. Am 2. Dezember 2021 findet zum zweiten Mal die CADFEM-Konferenz online statt. Das ist die weltweit größte Fachkonferenz zur Anwendung der Simulation im Bereich Medizin und Medizintechnik. Ihr Motto: „in vivo, in vitro, in silico. Die zentrale Rolle der in silico Medizin – was sie kann und was wir dafür brauchen.“ Und mit dem Projekt „In Silico World,“ das am 28. Januar 2021 seinen Kick-Off hatte, soll im Rahmen des mit insgesamt 11 Milliarden Euro geförderten Horizon 2020 Forschungs- und Innovationsprogramms der Europäischen Union durch die Aufnahme von Modellierungs- und Simulationstechnologien die Entwicklung und regulatorische Beurteilung von Arzneimitteln und Medizinprodukten beschleunigt werden. Als Langzeitauswirkungen stellt das am Projekt teilnehmende Konsortium eine Reduzierung der Kosten in Aussicht, sowie eine schnellere Entwicklung und regulatorische Beurteilung von neuen Produkten – bei gleichzeitiger Beibehaltung oder sogar Verbesserung des von konventionellen Ansätzen gebotenen Sicherheitsniveaus. Über 100 Fachleute von 17 Konsortialpartnern, darunter auch Universitäten und Wirtschaftsunternehmen, sind an diesem ambitionierten Projekt beteiligt.

All dies ist äußerst vielversprechend. Die Zukunft der Arzneimittelforschung ist in silico, auch wenn sie in vitro und in vivo wohl nicht komplett ersetzen können wird. Dennoch können sie in Kombination dafür sorgen, dass dringend benötigte neue Arzneimittel in einer Zeit des schnellen Wandels schneller und kostengünstiger zur Verfügung gestellt werden. Ein Trend, den auch die Apotheken vor Ort beobachten sollten. Denn ähnlich wie bei den mRNA-Impfstoffen wird es auch bei Arzneimitteln, die überwiegend am Computer getestet wurden, am Anfang viel Skepsis und Misstrauen geben. Aufklärung hierüber wird helfen, nicht nur die Akzeptanz bei Patienten zu steigern, sondern auch die Kosteneffizienz im Gesundheitswesen.
[…] weiteren Impulse für eine möglichst klimaneutrale Zukunft der Gesundheitsversorgung gibt […]
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