Kann Künstliche Intelligenz Mutationen des Coronavirus vorhersagen?

Kaum steigen in Deutschland die Zahlen der Neuinfektionen im Vergleich zur Vorwoche nicht mehr, rücken nun Mutationen des Coronavirus in den Fokus. Diese sollen wohl zuerst in Großbritannien oder Südafrika nachgewiesen worden sein und zeichnen sich vor allem dadurch dadurch aus, dass sie deutlich ansteckender sind, als die Variante, die uns inzwischen in Summe zwei Lockdowns, monatelanges Homeschooling/ Homeoffice und den Ausnahmezustand als „neues Normal“ beschert haben. Vom leisen Tod der Gastronomie und der Kultur ganz zu schweigen. Wie können wir es nur schaffen, dass nicht wir dem Virus hinterher rennen, sondern vielleicht einen Schritt voraus sind?

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Dass Viren mutieren ist nicht ungewöhnlich. Das Influenza-Virus beispielsweise macht das in einer Geschwindigkeit, die bedingt, dass es für jedes Jahr einen neuen Impfstoff benötigt. Die bisherigen Influenzaimpfstoffe müssen also jährlich neu an die gerade zirkulierenden Influenza-Viren angepasst werden. Beim HI-Virus, dem Auslöser der Immunschwächekrankheit AIDS, sind die Mutationen sogar so schnell, dass es bis heute keinen wirksamen Impfstoff gibt. Lediglich den Verlauf der Krankheit kann man inzwischen so weit hinauszögern, dass die Infektion mit HIV nicht mehr als Todesurteil, sondern als chronische Krankheit gilt. Durch die Mutationen entkommen die Viren immer wieder dem menschlichen Immunsystem. Oder anders ausgedruckt: Viren, die nicht mutieren, werden schnell von der menschlichen Immunabwehr ausgeschaltet. Man spricht hierbei in aller Regel von Escape-Mutation, viralem Entkommen oder Immunevasion – es gehört zur Überlebenstaktik der Viren.

Am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, haben Forscher nun ein Modell entwickelt, das vorhersagen kann, welche Mutationen in Virusgenen dazu führen, dass Viren dem menschlichen Immunsystem entkommen. Dabei wurde ein Machine Learning-Modell verwendet. Darunter versteht man ganz grundsätzlich ein Computerprogramm, das mit einem Satz von Daten und einem Lernalgorithmus darauf trainiert wurde, bestimmte Muster zu erkennen. Es lernt aus Beispielen und kann diese nach Beendigung der Lernphase verallgemeinern. Nach dem Lernen soll es dann auch ihm unbekannte Daten durchsuchen, um die antrainierten Muster zu erkennen und/oder Beziehungen innerhalb der Datensätze aufzuzeigen. Alles, was wir heute unter Künstlicher Intelligenz verstehen ist letztlich eine solche schwache künstliche Intelligenz (ANI für engl. „artificial narrow intelligence„).

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Das am MIT verwendete Modell basiert dabei auf natürlicher Sprachverarbeitung. Sprache muss, damit sie verstanden werden kann, sowohl grammatikalisch korrekt sein – das ist die Syntax – als auch von der Bedeutung her zutreffend sein – das ist die Semantik. Testen können Sie das am Smartphone, indem Sie einen beliebigen Text anfangen. Schreiben Sie zum Beispiel in eine Textnachricht „Gestern Abend habe ich“ und vervollständigen Sie den Text mit den automatisch generierten Vorschlägen von ihrem Smartphone. Syntaktisch wird das alles richtig sein – ob es das semantisch auch ist, darf bezweifelt werden. So wird der angefangene Satz bei dem einen mit den Worten „ein Schnitzel gegessen“ vervollständigt. Das ist sowohl von der Syntax als auch von der Semantik korrekt und stimmig. Bei einem Test auf meinem Smartphone kam jedoch der folgende Text: „noch einen Tag in den Ferien in den Kindergarten gehen.“ Das ist grammatikalisch zumindest bedenklich – und ergibt inhaltlich überhaupt keinen Sinn.

Nicht anders verhält es sich bei den Viren. Auch für sie gelten quasi-syntaktische Regeln, die bestimmen, ob ein bestimmtes Protein funktional ist. Der semantischen Bedeutung entspricht dann die Frage, ob das Protein auch eine neue strukturelle Form annehmen kann, die ihm dabei hilft, Antikörpern zu entkommen. Genau wie man im obigen Satz die Anfangsworte umstellen könnte in „Ich habe gestern Abend“ und sie dabei immer noch einen Sinn ergeben würden. Eine Mutation, die ein virales Entkommen ermöglicht, muss also die Grammatik der Sequenz beibehalten, aber die Struktur des Proteins auf eine Weise verändern, die es nicht ihrer Funktionalität beraubt.

Sobald das Modell trainiert war, verwendeten die Forscher es, um u.a. Sequenzen des Coronavirus-Spike-Proteins vorherzusagen, die mehr oder weniger wahrscheinlich Escape-Mutationen erzeugen würden. Die Analyse der Vorhersagen ergab schließlich Untereinheiten des Coronavirus, die weniger wahrscheinlich Escape-Mutationen erzeugen werden. Außerdem gibt es wohl Anlass zur Hoffnung, dass das Coronavirus deutlich langsamer mutieren wird, als HIV oder Influenzaviren. Dadurch würde der Schutz durch die Impfung länger anhalten.

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Dieses Beispiel zeigt, wie man Künstliche Intelligenz im Gesundheitsbereich sinnvoll einsetzen kann. Wenn Regionen am Coronavirus entdeckt werden, die hypervariabel und somit prädestinierter für eine Mutation sind als andere, so kann man sich in der Forschung gezielt damit auseinander setzen. Dies setzt aber voraus, dass auch in Deutschland so schnell wie möglich deutlich mehr Proben sequenziert werden als bisher. Nur dann kann für die Wirkstoffentwicklung ein klareres Bild über die quantitative und regionale Verbreitung der Virusvarianten entstehen. Als Konsequenz könnte bei Bedarf die Impfstoffherstellung angepasst und optimiert werden. Mit KI-basierten Modellen wie dem hier beschriebenen können Veränderungen in der räumlichen Struktur des SARS CoV-2-Spike-Proteins auch nach Wahrscheinlichkeit sortiert werden. Impfstoffhersteller können gezielt an Modellierungen forschen, die auch für solchen Escape-Mutationen wirksam wären. Und wir wären diesem verfluchten Virus endlich einen Schritt voraus …