Können wir mit Künstlicher Intelligenz die nächste Pandemie verhindern?

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie.“ Mit diesen Worten wird Angela Merkel anlässlich der Jahrestagung der Weltgesundheitsorganisation zitiert, die Ende Mai diesen Jahres virtuell abgehalten wurde. Irgendwie deckt sich das gewiss auch mit der Intuition der meisten Menschen. Wir wissen jetzt, dass wir bei SARS und MERS irgendwie noch glimpflich davongekommen sind. Wir wissen aus den Geschichtsbüchern, dass die Spanische Grippe vor 100 Jahren ein epochaler Einschnitt war. Wie damals werden wir die aktuelle COVID-19-Pandemie, allen Mutationen und Varianten zum Trotz, irgendwann in den Griff bekommen. Wie Influenza wird auch SARS-Cov2 endemisch werden. Der wichtigste Schlüssel dafür ist sicherlich die Impfkampagne. Also sollten wir uns doch besser früher als später die Frage stellen, ob wir nicht durch das bittere Lehrgeld, das wir während der Pandemie gezahlt haben, nützliche Lehren für die Zukunft ziehen können. Immerhin wurden durch das Coronavirus binnen kürzester Zeit transformatorische Kräfte in Gang gesetzt, die noch vor zwei Jahren niemand für möglich gehalten hätte. Und, wie eingangs erwähnt, nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Was können wir also beim nächsten Mal besser machen?

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Am 03.03.2020 meldete u.a. CNBC von einer kanadischen Plattform für Künstliche Intelligenz namens „BlueDot,“ die bereits am 30.12.2019 eine Häufung von Fällen ungewöhnlicher Lungenentzündungen rund um einen Markt in der chinesischen Stadt Wuhan entdeckt hatte. Wie das geht? Basis der BlueDot-Technologie ist ein KI-gesteuerter Algorithmus, der fremdsprachige Nachrichten, Netzwerke für Tier- und Pflanzenkrankheiten sowie offizielle Bekanntmachungen durchforstet. Er soll seine Anwender rechtzeitig vor Seuchengebieten wie Wuhan warnen, damit sie diesen ausweichen können. Anders als das seinerzeit gescheiterte Google Flu Trends verwendet der Algorithmus keine Daten von Social-Media-Postings, weil die hieraus zu gewinnenden Informationen nicht eindeutig genug sind. Aber BlueDot behilft sich eines naheliegenden Kniffs: es greift auf weltweite Ticketdaten von Fluggesellschaften zu, mit deren Hilfe sich vorhersagen lässt, wohin und wann potentiell infizierte Einwohner als nächstes reisen werden. So wurde Anfang 2020 beispielsweise zutreffend prognostiziert, dass das Virus in den ersten Tagen nach seinem ersten Auftreten in Wuhan erst einmal weiter nach Bangkok, Seoul, Taipeh und Tokio gelangen würde. Sehr zukunftsweisend an BlueDot dürfte auch die interdisziplinäre Zusammensetzung der dort beschäftigten Mitarbeiter sein: es handelt sich bei ihnen nämlich überwiegend um Ärzte und Programmierer. Letztere haben das Analyseprogramm zur Krankheitsüberwachung entwickelt, bei dem Nachrichten in 65 Sprachen, Airline-Daten und Berichte über Tierseuchenausbrüche in natürlicher Sprache von einer hierauf trainierten KI gesichtet werden. Sobald das automatisierte Sichten dieser Daten abgeschlossen ist, übernehmen dann Menschen: Epidemiologen überprüfen, ob die Schlussfolgerungen aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll sind. Sind sie das, so senden sie anschließend einen Bericht an die Kunden, die vorwiegend aus den Bereichen Regierung, Wirtschaft und öffentliche Gesundheit stammen. Dadurch können zukünftig Beamte des öffentlichen Gesundheitswesens, Fluggesellschaften und Krankenhäuser in den Ländern, in denen infizierte Patienten ankommen könnten, geeginete Präventivmaßnahmen ergreifen. Zum Beispiel könnten Impfstoffe rechtzeitig an die Apotheken verteilt werden, um in den errechneten Hotspots genügend Vorräte zu haben. Das Edikt von Cupertino berichtete übrigens bereits am 28.01.2020 über BlueDot … und BlueDot ist nur ein Beispiel von diversen hochspezialisierten Systemen, die Infektionsgeschehen vorhersagen können.

Auch die tägliche Lageeinschätzung mit Hilfe von Dashboards haben wir uns antrainiert. Für die Behörden und Gesundheitsämter sind Faktoren wie Inzidenzwerte, Neuinfektionen oder der R-Wert sicherlich wichtige Faktoren, um darauf angemessen reagieren zu können. Diese faktenbasierte Überwachung der Ausbreitung des Virus haben aber auch Privatpersonen genutzt, die mit dem Gesundheitssystem ansonsten gar nichts zu tun haben. Ich persönlich habe hierfür zu Beginn der Pandemie gerne auf das „Coronavirus Worldometer“ geschaut. Es wird nach wie vor täglich mehrmals aktualisiert und bietet die Daten in mehreren Dimensionen an. Dargestellt werden die Gesamtzahl der Infizierten, die Todesfälle und diejenigen, die wieder komplett genesen sind. Auch eine regionale Aufteilung nach Ländern sowie der zeitliche Verlauf sind darin schön zu sehen. International zählte die Landkarte der Johns Hopkins University (JHU) schnell zu den beliebtesten Tools für das geografische Tracking der Virenverbreitung, während in Deutschland das Dashboard des Robert-Koch-Instituts (RKI) zum Standard wurde. Daneben gibt es andere Systeme wie Healthmap, welche die öffentliche Gesundheit in Echtzeit überwachen können. Diese greifen dabei sogar, ähnlich wie BlueDot, auf öffentlich verfügbare Informationen, beispielsweise aus Sozialen Netzwerken und Nachrichtendiensten, aber auch validierten Quellen wie Warnmeldungen der WHO zurück und visualisieren diese auf einer Landkarte. Stets ist dabei im Hintergrund Künstliche Intelligenz am Analysieren und Validieren der eingehenden Daten. Die Informationsbeschaffung über die aktuelle Ausbreitung des Virus scheinen wir also gemeistert zu haben.

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Nicht nur das Ausbruchgeschehen lernten wir zu überwachen, auch unsere Kontakte fingen wir bereits letzten Sommer an, nachzuverfolgen. Im Juli 2021 hat die Corona-Warn-App (CWA) die unglaubliche Zahl von über 30 Millionen Downloads überschritten. Die CWA wurde in enger Abstimmung mit Datenschützern entwickelt und dürfte somit den Goldstandard nicht nur für künftige Projekte im Kontext von Seuchenbekämpfung setzen, sondern auch für die Entwicklung des Datenschutzes. Anonymisierter Datenaustausch ist nämlich durchaus möglich, wenn man den Grundsatz der Datensparsamkeit konsequent anwendet. Aber die CWA ist nicht das einzige Tool, das wir für die Kontaktnachverfolgung verwenden und Deutschland ist nicht das einzige Land, welches hierfür IT-Systeme einsetzt. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Anbietern von Kontakttagebüchern und gerade das hierzulande bekannteste – luca – wurde vom Chaos Computer Club wegen IT-Schwachstellen angegriffen. Datenschutz bedeutet aber auch, die Kontaktnachverfolgung nur so lange aufrecht zu halten, wie sie für die Erreichung des Zweckes benötigt wird. Der Zweck ist erreicht, sobald die COVID-19-Pandemie eingedämmt ist. Ob jedoch alle Länder mit Corona-Überwachungs-Programmen diese danach wieder zurücknehmen werden, wird erst die Zukunft zeigen.

Künstliche Intelligenz half in den letzten 18 Monaten aber nicht nur bei der Vorhersage über die Ausbreitung der Pandemie. In einer Studie der Oxford University wurden Mikroskopbilder einzelner intakter Partikel eines normalen Rachenabstriches von einer Künstlichen Intelligenz untersucht. Im Test wurden Markierung, Bildgebung und Virusidentifizierung in weniger als fünf Minuten erreicht, ohne dass dabei weitere Schritte zur Reinigung oder Verstärkung der Probe notwenig wären. Das entsprechend trainierte neuronale Netzwerk der Künstlichen Intelligenz war in der Lage, SARS-CoV-2 mit hoher Genauigkeit von negativen klinischen Proben sowie von anderen häufigen respiratorischen Pathogenen wie Influenza und saisonalen menschlichen Coronaviren zu unterscheiden. Die positiven Ergebnisse aus der Studie wurden anschließend von herkömmlichen PCR-Tests nochmal bestätigt. Es wurde sogar eine Künstliche Intelligenz darauf trainiert, aufgrund der Herzfrequenzvariabilität, die von normalen Smartwatches erfasst wird, zutreffende Rückschlüsse auf eine COVID-19-Erkrankung zu schließen, bevor Symptome zu Tage treten. Jedoch wies die veränderte Herzfrequenzvariabilität nicht nur auf COVID-19-Infektion hin, sondern auf beliebige Infektionsprozesse, die im Körper ablaufen und die Smartwatch, die einen vor der Corona-Infektion warnt, bleibt erst einmal Science Fiction.

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Am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, haben Forscher schließlich ein Modell entwickelt, das mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz vorhersagen kann, welche Mutationen in Virusgenen dazu führen, dass Viren dem menschlichen Immunsystem entkommen, sog. „Escape-Mutationen.“ Für Viren gelten bestimmte Regeln, die bestimmen, ob ein bestimmtes Protein funktional ist und ob es auch eine neue strukturelle Form annehmen kann, die ihm dabei hilft, Antikörpern zu entkommen. Eine Mutation, die ein solches virales Entkommen ermöglicht, muss also die Grundregeln der Sequenz beibehalten, aber die Struktur des Proteins auf eine Weise verändern, die es nicht ihrer Funktionalität beraubt. Am MIT verwendeten die Forscher das Modell, um u.a. Sequenzen des Coronavirus-Spike-Proteins vorherzusagen, die mehr oder weniger wahrscheinlich sog. Escape-Mutationen erzeugen würden. Heute wissen wir, dass dank Delta und Lambda nach wie vor ungewiss ist, wie lange dieser Dauer-Ausnahmezustand noch andauern wird. Dennoch gibt es Anlass zur Hoffnung: die Simulationen zeigten auch, dass das Coronavirus wohl deutlich langsamer mutieren wird, als HIV oder Influenzaviren. Dadurch hält zumindest der Schutz durch die Impfung länger an und muss wohl nicht jährlich aufgefrischt werden.

Auch wenn Verschwörungstheorien zwischenzeitlich Hochkonjunktur hatten, zeigt die Pandemie doch vor allem, wie anpassungsfähig wir Menschen sind. Während Homeoffice, Homeschooling und Lockdown einerseits für die Betroffenen häufig eine Belastung darstellten, so waren sie für andere eine einmalige Chance, ihre Leistungen endlich einer breiteren Masse anzubieten. Im Bereich der Gesundheitsversorgung waren es vor allem Telemedizin und Telepharmazie, die einen wahren Boom erlebt haben. Bei den Apotheken war es das kontaktlose Kaufen, meist über Click & Collect. Keine Krise ohne Chance.

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Wir Menschen haben unsere Anpassungsfähigkeit in den letzten 18 Monaten eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Das Coronavirus mit seinen Mutationen leider auch. Momentan scheint es ein Wettrennen zu sein, zwischen der Impfkampagne und den Virusvarianten. Die in diesem Beitrag gelisteten Beiträge zeigen, dass im Hintergrund bereits heute Künstliche Intelligenz an vielen Fronten im Kampf gegen die Pandemie unterstützend eingesetzt wird. Sollten wir da nicht gut gerüstet sein für die nächste Pandemie?

Doch leider gibt es hier großen Anlass zur Skepsis. Denn unsere Anpassungsfähigkeit betrifft sämtliche Bereiche unseres Alltags. Das wirkt sich aus, zum Beispiel auf Quellen wie gebuchte Flugtickets für Tools wie BlueDot. Die Flugbewegungen der Menschen haben heute weniger Aussagekraft als noch im Dezember 2019, da der weltweite Flugverkehr noch lange brauchen wird, bis er wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht haben wird. Menschen nehmen aktuell statt dem Flieger oder dem Zug lieber das eigene Auto. Hierfür wiederum gibt es keine öffentlich zugänglichen Daten, anhand derer man Bewegungsprofile und Verbreitungswege von Viren anonym ableiten könnte. Und könnte man Ausbreitungsrouten ermitteln, dann hätten wir eine noch schlimmere Datenschutzdiskussion als bei der Kontaktverfolgung. Es gibt ein Spannungsfeld zwischen Künstlicher Intelligenz und Datenschutz, das spätestens bei der nächsten Pandemie nochmal radikal an Bedeutung gewinnen wird. Denn nur wenn weltweit Datensätze transparent ausgetauscht und Wissenschaftler international zusammenarbeiten, können immer genauere Modelle errechnet werden, die letztlich auch die nächste Pandemie effektiv einzudämmen in der Lage sind. Diese Wertediskussion sollte daher möglichst bald abgeschlossen sein, damit wir bei der nächsten Pandemie nicht so unvorbereitet sind wie bei COVID-19.