Kann meine Smartwatch Corona erkennen bevor Symptome auftreten?

Selbst wenn der Gedanke, dass Ihre Armbanduhr Ihnen sagen könnte, dass Sie Covid-19 haben, nicht angenehm ist, so könnten Ihre Freunde und Verwandten, die dadurch vor einer Ansteckung durch Sie verschont bleiben, sehr dankbar sein über dieses Feature. Und tatsächlich bin ich letzte Woche auf Twitter auf eine Nachricht aus dem englischsprachigen Forbes-Magazin gestossen, die genau das behauptet: „Apple Watch can detect Covid-19 before symptoms arise, new study shows“ (Die Apple Watch kann Covid-19 entdecken bevor Symptome erscheinen, zeigt eine neue Studie.)

Die dazugehörige Studie des Krankenhausnetzwerks Mount Sinai Health System aus New York City war dann, Google sei dank, auch schnell gefunden. Die Forscher untersuchten im Zeitraum vom 29. April bis zum 29. September 2020 insgesamt knapp 300 der Beschäftigten am Mount Sinai. Die Studienteilnehmer luden eine App auf ihr iPhone herunter und trugen Apple Watches am Arm. Dabei wurde anhand von Veränderungen in ihrer Herzfrequenzvariabilität vorhergesagt, ob die Mitarbeiter sich mit dem Coronavirus infiziert hatten. „Die Smartwatch zeigte signifikante Änderungen der Metriken in der Herzfrequenzvariablität bis zu sieben Tage, bevor Personen positiven auf Covid-19 getestet wurden, an. Diese signifikanten Änderungen hielten bis zum Zeitpunkt der Symptomentwicklung an„, wird der Autor der Studie, Robert P. Hirten, zitiert. Zu den Symptomen, die täglich erfasst wurden, gehören Fieber oder Schüttelfrost, Müdigkeit oder Schwäche, Körperschmerzen, trockener Husten, Niesen, laufende Nase, Durchfall, Halsschmerzen, Kopfschmerzen, Atemnot, Geruchs- oder Geschmacksverlust, juckende Augen bis hin zu asymptomatischen Verläufen ganz ohne Symptome. Laut Studie konnten rund zwei Drittel der Covid-19-Fälle vier bis sieben Tage vor dem Auftreten von Symptomen identifiziert werden. Die Studie weist noch ausdrücklich noch darauf hin, dass sie nicht von Apple finanziert wurde.

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Der Nutzen liegt auf der Hand: man kann davon ausgehen, dass weltweit mehr als die Hälfte der Corona-Fälle von asymptomatischen Trägern übertragen werden. Wenn also jemand feststellen kann, dass er wahrscheinlich Covid-19 hat, auch ohne Symptome zu zeigen, so kann er sich zumindest vorsorglich selbst isolieren. Dadurch könnte er alle anderen schützen. Spinnt man diesen Gedanken konsequent zu Ende, so bräuchte es, wenn alle eine solche Smartwatch tragen und sich an diese Vorgaben halten, keinen Lockdown mehr oder all die anderen Maßnahmen, die unseren Alltag seit inzwischen 10 Monaten prägen.

Werfen wir als nächstes einen Blick auf die Herzfrequenzvariabilität, welche die Basis für die Studie bildet. Als Herzfrequenzvariabilität oder Herzratenvariabilität (HRV=Heart Rate Variability) wird die Eigenschaft des Herzens bezeichnet, die zeitlichen Abstände zwischen Herzschlägen variieren zu können. Es wird also nicht die Anzahl der Schläge pro Minute betrachtet, sondern die Zeitspanne zwischen zwei aufeinanderfolgenden Herzschlägen. Zu den wichtigsten Aussagen, die Messungen und Analysen der HRV leisten können, gehören – vor allem für Sportler – Aussagen zu Regeneration, Erholung, Stress oder auch Über- und Untertraining. Die natürlichen Schwankungen können bis zu 100 Millisekunden betragen. Dadurch kann sich das Herz flexibel an unterschiedliche Situationen im Alltag und Sport anpassen. Die individuelle HRV und ihre Schwankungen hängen von Alter, Geschlecht und erblicher Veranlagung ab. Mit zunehmendem Alter nimmt die Variabilität jedoch ab. Bei Herzinsuffizienz liegt meist eine stabilere HRV vor, auch Stress kann zu weniger schwankender HRV führen.

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Zu viele Schwankungen in der HRV sind jedoch auch kein gutes Zeichen …

Auf HRV-Messungen aufbauende Funktionen und Features finden sich immer mehr in Wearables wie Sport- und Fitnessuhren. Die HRV- sowie weitere aus Herzfrequenz-Messungen ermittelte Daten werden von den Geräten verwendet, um die Benutzer mit Informationen zur Sauerstoffsättigung des Bluts, zum Stresslevel, Erholungsstatus des Herz-Kreislauf-Systems, zu Lauf-Prognosen und zur Laktatschwelle zu versorgen; daneben werden sie auch als Grundlage für Erholungsratgeber oder zur Einschätzung der Schlafqualität verwendet. Diese Wearables ersetzen dabei natürlich nicht ausgewiesene Medizinprodukte und sind nicht immer so exakt wie Geräte bei einem entsprechend ausgestatteten Facharzt. Jedoch liegen die Wearables immer häufiger nicht ganz daneben. Neben der bereits erwähnten Apple Watch (ab WatchOS 6) können auch die neueren Fitness-Tracker und Wearbales dieser Hersteller die HRV messen: Fitbit, Garmin, Huawei, Jabra, Polar, Samsung, Sony, Suunto oder Xiami.

Zusammengefasst messen heute also die meisten Smartwatches die Herzratenvariabilität. Insbesondere im Leistungssport wird die HRV bereits seit Längerem eingesetzt, um Aufschluss über die Trainingsbelastung der Sportler zu erhalten. Auch ein Körper, der mit der Abwehr einer Krankheit beschäftigt ist, zeigt ähnliche Ermüdungssymptome wie nach einem harten sportlichen Wettkampf. Jeder, der schon mal von Männergrippe niedergestreckt wurde, kann davon ein Lied singen. Somit klingt es zunächst mal plausibel, dass Smartwatches auch Infektionen frühzeitig erkennen können sollen.

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Aber: könnte tatsächlich ein Gerät von einem großen Hersteller wie Apple, Huawei oder Samsung den Auslöser der größten gesellschaftlichen Zäsur unserer Zeit entdecken, bevor dieser auf andere Menschen übertragen werden kann – hätten dann nicht diese Hersteller mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür gesorgt, dass die Nutzung ihrer Geräte verpflichtend wird? Würden dann in Regionen mit weniger stringentem Datenschutz die Daten von diesen Wearables nicht schon längst automatisch an die Gesundheitsbehörden übermittelt werden?

Und tatsächlich gibt es noch einen weiteren einen Haken. Zwar kann man nicht ausschließen, dass regelmäßige HRV-Messungen – in Verbindung mit medizinischem Fachwissen und Erfahrung – ein geeignetes Werkzeug zur Früherkennung, Diagnose und Prävention sind, insbesondere bei Krankheiten mit langsamer Entwicklung und solchen, die von Defiziten bei körperlicher und geistiger Entspannung herrühren. Jedoch weist die veränderte Herzfrequenzvariabilität nicht nur auf eine Covid-19-Infektion hin, sondern auf beliebige Infektionsprozesse, die im Körper ablaufen.

Somit bleibt die Smartwatch, die einen vor der Corona-Infektion warnt, für heute nichts als Science Fiction. Dennoch zeigen Studien wie die des Mount Sinai Health Systems, in welche Richtung sich die Digitalisierung der Gesundheit bewegt. Sie kann – und wird – uns dabei unterstützen, den sich immer schneller ändernden Gesundheitsbedürfnissen gerechter zu werden. Wenn sie uns Menschen dabei unterstützt, die richtigen Entscheidungen für uns und unsere Mitmenschen zu treffen, dann lohnen sich solche Forschungsprojekte allemal. Dennoch wird es immer wieder ethische Fragen geben, von denen ich nicht weiß, ob unsere Gesellschaft schon die geistige Reife hat, auf sie auch eine angemessene Antwort zu finden. Könnte zum Beispiel eine bestimmte Smartwatch die Covid-Erkrankung aufspüren, was denken Sie … sollten dann nicht alle Mitbürger zum Tragen dieser Smartwatch verpflichtet werden? Sollten die Befunde der Smartwatch an Behördern wie das Gesundheitsamt übertragen werden? Und was passiert mit Menschen, die sich die Smartwatch nicht leisten können oder sie nicht tragen wollen? Und was mit denen, die sich trotz Warnung nicht isolieren? Utopie und Dystopie gehen hier Hand in Hand …