Laut einer Veröffentlichung von IQVIA wurden im Jahr 2020 über 90.000 Gesundheits-Apps entwickelt und veröffentlicht. Im Jahr 2021 lag die Gesamtzahl von Gesundheitsanwendungen weltweit bei über 350.000. Einige davon überwachen eher allgemein die Fitness oder bestimmte Aspekte der Gesundheit. Es gibt aber auch Apps, die auf ganz spezifische Krankheitsbilder wie beispielsweise mentale Gesundheit, Diabetes oder auch Tinnitus zugeschnitten sind und die Therapie ganz oder teilweise unterstützen – in Deutschland werden einige diese sog. „Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA)“ sogar von den Gesetzlichen Krankenkassen erstattet.

Wie jedoch soll man als Apotheke mit dem Anspruch, die eigenen Kunden fundiert zu Gesundheitsthemen zu beraten, hier noch den Überblick behalten? Zumal der Zustrom an neuen Veröffentlichungen nicht abreißt, sondern eher noch zunimmt. Damit an digitaler Gesundheit interessierte Menschen keine Angst haben müssen, den „neuesten heißen Scheiß“ zu verpassen, gibt es eine Art Checkliste von insgesamt sechs Punkten, die kürzlich auf der von mir sehr geschätzten Seite „The Medical Futurist“ veröffentlicht wurde. Werden mindestens zwei der Fragen auf der Checkliste bejaht, so sollte man die so bewertete Innovation im Auge behalten. Gehen wir die sechs Punkte also einmal durch. Ich habe sie so angepasst, dass sie aus Apothekenperspektive passen und eine weitere gute Grundlage zur Bewertung dienen können.
1. Wird mit dem Produkt auf echte Bedürfnisse der Apotheke oder ihrer Kunden eingegangen?
Die erste Frage richtet sich nach dem „Warum?“ – welchen Zweck verfolgt eine bestimmte Lösung, welches Problem soll sie beheben? Gibt es weder für die Apotheke (oder, bei anderen Zielgruppen, für die Angehörigen eines Heilberufes) noch für die Patienten einen echten Nutzen im Alltag, so ist das Erfolgspotential einer solchen Lösung bestenfalls überschaubar. Etwas zu entwickeln, nur, weil es technisch möglich ist, ist nicht ausreichend.

In meinen frühen Vorträgen und auch im Buch zu diesem Blog erwähnte ich beispielsweise Smart Glasses bzw. Datenbrillen als mögliche neue Benutzeroberfläche für die Apothekenwarenwirtschaft. Fünf Jahre später schaut es nicht danach aus, als würde so etwas in absehbarer Zeit Realität werden. Technisch möglich ist es längst, siehe Google Glass, aber das Problem, welches eine solche smarte Brille lösen soll, gibt es nicht. Beziehungsweise noch nicht. Oftmals hängt der Erfolg von technologischen Innovationen auch ganz stark vom richtigen Zeitpunkt ab. Und der ist bei diesem Beispiel zumindest aktuell nicht erreicht. Wird er es jemals sein? Wird es jemals ein Problem geben, das durch diese Innovation gelöst werden wird?
2. Gibt es klinische Studien oder Versuche, die das Nutzenversprechen der Innovation bestätigen?
Evidenzbasiert und „Peer-Review“ sind hier die Stichpunkte. Gibt es so etwas für das Nutzenversprechen der Innovation? Meist muss man danach nicht lange suchen – jeder, der solche Studien in der Hinterhand hat, wird sie voller Stolz veröffentlichen und bei jeder Gelegenheit auf sie hinweisen. Ein Beispiel hierfür ist die Smartwatch, die bestimmte Wirkstoffe im Schweiß nachweisen kann. Sobald es hierzu weitere Studien und klinische Versuche gibt, wird sie – ähnlich wie die Closed-Loop-Systeme bei Diabetes – nachweislich zur Adhärenzsteigerung beitragen.
3. Erhalten sowohl die Apotheke als auch die Kunden zusätzliche Informationen, die ihnen ohne die Innovation nicht zur Verfügung stehen würden?
Nur Technologien, die beiden Zielgruppen relevante Zusatzinformationen zur Verfügung stellen, fördern den Aufstieg der „E-Patienten“ und ermöglichen diesen den Diskurs auf Augenhöhe mit den Angehörigen von Heilberufen. Besteht ein solcher Erkenntnisgewinn nur auf Seiten der Heilberufe, so handelt es sich um Medizintechnik oder schlichte Features in der Apothekenwarenwirtschaft.

Ein positives Beispiel für beiderseitigen Informationsgewinn sind Medikationsapps, in denen Patienten an ihre Arzneimittel erinnert werden und deren Einnahme einfach bestätigen können. Der Patientennutzen liegt darin, dass sie aktiv an die Medikamente erinnert werden und so das Risiko eines Therapieabbruchs mit unabsehbaren Folgen für die eigene Gesundheit minimiert wird. Apotheken profitieren davon, dass sie bei entsprechender Freigabe durch den Kunden dessen Adhärenz besser beurteilen können und im Bedarfsfall mit dem Arzt über therapieverbessende Maßnahmen sprechen können.
4. Hilft die Innovation dabei, die Beziehung zwischen Apotheke und Kunde zu verbessern?
Digitalisierung verbindet Menschen. Das gilt auch im Bereich der Gesundheit. Geschehen muss das nicht unbedingt immer nur durch ein Mehr an Informationen wie bei Punkt 3. Auch im Bereich der Funktionen gibt es viele Ansatzpunkte hierfür. Kunden, die in Stoßzeiten gerne über lange Wartezeiten im HV der Apotheke nörgeln, können beispielsweise über Vorbestell-Apps oder Plattformen von zu Hause aus bestellen. Außerhalb der Öffnungszeiten können sich Abholautomaten oder ein „Late-Night-Botendienst“ um die Übergabe kümmern.

Grundsätzlich unterstützt eine Technologie immer dann die Beziehungsebene zwischen Heilberufler und Patient, wenn sie nicht-essentielle Aufgaben übernimmt. Das schafft Zeit für Empathie und Fokus auf den Menschen, der vor einem steht. In der Apotheke seien hier nur exemplarisch die automatische Nachbestellung von Lagerware aus der Warenwirtschaft, Kommissionierautomaten oder auch das E-Rezept zu nennen. Sie alle befreien das Apothekenpersonal von administrativer Arbeit, die dann für die Beziehungspflege mit den Kunden fehlt.
5. Können wir die neuen Funktionen mit unseren vorhandenen Geräten benutzen?
Erfolgreiche Innovationen tendieren dazu, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Je mehr Investitionen zur Nutzung einer neuen Idee notwendig sind, umso unwahrscheinlicher wird es, dass sie sich dauerhaft durchsetzen kann. Gerade in Zeiten, in denen die Politik den Sparkurs im Gesundheitswesen verschärft und Endverbraucher durch die Energiekrise ihr Geld zusammenhalten müssen, gewinnt dieser Punkt an Relevanz. Apothekenkunden werden sich im Zweifel eher eine kostenfreie App zur Messung des Pulses mit der Kamera des Smartphones herunterladen als ein Blutdruckgerät in der Apotheke zu kaufen. Die Hürde für die Nutzung einer Innovation sollte daher ganz generell so niedrig wie möglich sein.
6. Lässt sich die Innovation weltweit (oder zumindest regional) skalieren?
Auch wenn die Gesundheitspolitik sehr national ist und in manchen Ländern, wie beispielsweise Italien, sogar noch von Region zu Region unterschiedlich ausgeprägt ist, so ist der freie Datenaustausch ein wesentliches Grundprinzip erfolgreicher Digitalisierungsprojekte. Jedes Produkt, dass maßgeschneidert für einen einzigen Markt ist, hat ein beschränktes Wachstumspotential. Dadurch wird es für Investoren weniger interessant. Das wiederum erhöht das Risiko, dass auf dem Weg zur Marktreife irgendwann die Finanzierung nicht mehr ausreicht.
Global skalierbare Lösungen hingegen haben ein nahezu unermessliches Potential. Künstliche Intelligenz, Deep und Machine Learning beispielsweise benötigen Unmengen an Daten, um trainiert zu werden. Regional trainierte KI’s haben häufig keine heterogene Datengrundlage und sind somit im schlimmsten Fall vorurteilsbehaftet. Auch neue Therapien für seltene Krankheiten können nur gefunden werden, wenn Informationen weltweit zusammenließen.

Das waren die sechs Fragen, angepasst auf Apotheken. Damit können Sie nun nochmal reflektieren, was Ihnen vor gut einem Monat auf der Expopharm 2022 in München vorgestellt wurde. Und auch wenn die Checkliste keine Garantie dafür geben kann, dass Sie damit frühzeitig das nächste Unicorn (Unternehmen mit einer Bewertung von über 1 Milliarde US-Dollar) identifizieren werden, so funktioniert der umgekehrte Weg doch erstaunlich gut: Sie werden recht schnell herausfinden, bei welchen Innovation Sie keine zwei Fragen von der Checkliste bejaht haben. Und mit diesen sollten Sie Ihre wertvolle Zeit nicht weiter vergeuden. Fokussieren Sie stattdessen besser auf das, was Ihnen und Ihren Kunden Erfolg und Gesundheit verspricht!