… und wenn man nur noch eine Pille pro Tag nehmen müsste?

Wie man heute schon Mund-Nasen-Schutzmasken aus dem 3D-Drucker fabrizieren kann, haben wir an dieser Stelle vor Kurzem ausführlich besprochen. Nun gibt es eine neue Studie, die darauf hinweist, dass auch Medikamente aus dem 3D-Drucker sich zum Glücksfall für Chroniker entwickeln könnten, die täglich mehrere Tabletten einnehmen müssen – und sich möglicherweise sogar als lebensrettend für einige von erweisen werden. Als eine Ausprägung des demografischen Wandels gilt ja, dass wir alle immer älter werden. Damit einher gehen jedoch auch immer höher werdende Raten an chronischen Erkrankungen. Folglich nehmen immer mehr Menschen mehrere Tabletten ein – für die verschiedensten Erkrankungen und oft auch zu unterschiedlichen Tageszeiten. Die richtige Pille zur richtigen Zeit einzunehmen kann problematisch sein – und wird spätestens dann sogar potenziell gefährlich, wenn den Patienten dabei Fehler unterlaufen. Besonders schwierig ist diese Situation aus naheliegenden Gründen für Menschen mit Demenz. Wäre es nicht bequemer und sicherer, wenn diese Menschen nur eine Pille pro Tag einzunehmen bräuchten – eine Pille, die alle richtigen Medikamente zur richtigen Zeit in der richtigen Dosis liefert?

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Wer hat hier noch den Überblick?

Arzneimittel wie Kapseln, Pillen oder Tabletten wirken normalerweise, indem sie Medikamente in den Körper abgeben, wenn sich ihre äußere Hülle im Verdauungssystem auflöst. Das Medikament im Inneren des Medikaments gelangt dann in den Blutkreislauf. Nicht-Pharmazeuten, die gerne verstehen würden, wie genau das abläuft, sei an dieser Stelle das Buch „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihre Apothekerin“ von Christine Gitter empfohlen, in dem dies auch für Laien anschaulich und verständlich beschrieben wird … und wo auch ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, die Wirkung von Arzneimitteln so richtig zu verstehen.

Das Problem dabei ist, dass heute ein Medikament meist nur einen Wirkstoff oder eine Kombination von wenigen Wirkstoffen hat. Bei einer Therapie mit vielen Arzneimitteln sind daher die Einnahmezeitpunkte für den Erfolg einer Therapie sehr wichtig – sie berücksichtigen allerdings nicht die Terminpläne oder gar die Vergesslichkeit der zu behandelnden Patienten. Wäre da nicht eine naheliegende Lösung eine Pille, die aus vielen Schichten smart gestaltet ist? Nachdem der unter der ersten Hülle sitzende Wirkstoff freigesetzt wird, wird die nächste Hülle der Pille freigelegt, die sich daraufhin auflöst und das nächste Medikament freisetzt. Dies wird so lange fortgesetzt, bis die gesamte Pille aufgelöst ist und sämtliche Arzneimittel, die der Patient einzunehmen hat, freigesetzt sind.

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Schicht für Schicht zum Wirkstoff – war evtl. eine Zwiebel Pate dieser Idee?

Auch die zeitliche Taktung der Abgabezeitpunkte von jedem Wirkstoff ist grundsätzlich durch die Dicke und die Anordnung der jeweiligen Schicht auf der Pille zu steuern. Die Schichten lösen sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf und bestimmen so den Zeitpunkt der Wirkstoffaufnahme in den Blutkreislauf. Dies ist kein gespinnerter Zukunftstraum. Diese sog. „Polypillen“ gibt es bereits, hauptsächlich für Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck und Herz-/ Kreislauf-Erkrankungen. Es ist auch nicht weiter schwierig, diese Polypillen in Massenproduktion herzustellen. Aber einen großen Nachteil gibt es trotzdem: eine Polypille mit einer bestimmten Wirkstoffkombination kann niemals für alle Patienten gleichermaßen geeignet sein. Einige von ihnen benötigen möglicherweise einen oder mehrere der Wirkstoffe nicht. Oder sie benötigen diese in anderer Dosierung. Je nach Zusammensetzung der Darmflora und/ oder Magensäure könnten sich die Schichten auf der Pille auch zu schnell oder zu langsam auflösen. Und genau an dieser Stelle gelangt die Massenproduktion an ihre Grenze.

Die Herstellung personalisierter Polypillen mit den üblichen Techniken zur Fertigung von Arzneimitteln ist sehr teuer, da nur sehr geringe Mengen benötigt werden – oftmals sogar nur für einen Patienten. Viel günstiger wäre es daher, wenn auch zur Herstellung dieser Polypillen das 3D-Druck-Verfahren geeignet wäre, bei dem je nach Design dünne Materialschichten aufgetragen werden, bis hin zum finalen Produkt: der gedruckten Polypille.

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Druckkopf eines 3D-Druckers

Es gibt bereits eine Tablette aus dem 3D-Drucker, die von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) zugelassen wurde. Sie ist jedoch keine Polypille, sondern enthält als Wirkstoff lediglich das Antiepileptikum Levetiracetam, welches sich beispielsweise sehr gut in Wasser auflöst. Andere Wirkstoffe hingegen sind nur schwer bis gar nicht wasserlöslich. Arzneimittel müssen sich nach der Aufnahme in den Körper jedoch in der Geschwindigkeit auflösen, die benötigt wird, dass ihr Wirkstoff an der richtigen Stelle im Körper freigesetzt wird. Dies gilt natürlich auch für Polypillen.

Und genau an dieser Stelle setzen die vor Kurzem veröffentlichen Forschungsergebnisse zu einem Material an, das in der Vergangenheit bereits für die bessere Resorption wasserunlöslicher Arzneimittel verwendet wurde – aber noch nie zuvor in 3D gedruckt wurde. Diese Materialien sind als „Tensid-Polyelektrolyt-Komplexe“ bekannt. Dabei handelt es sich um eine Art Gel, das hauptsächlich aus Wasser besteht, aufgrund seiner chemischen Eigenschaften allerdings auch gut Wirkstoffe transportieren kann, die ihrerseits wiederum nicht in Wasser gelöst werden können.

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Enthalten häufig auch Tenside: Seife bzw. Seifenblasen

Der ambiphile molekulare Aufbau der Tenside sorgte hierbei für den Durchbruch bei der Studie. Für die Nichtpharmazeuten – und: ja, natürlich musste ich beim Verfassen dieses Textes sehr viele Definitionen googeln – evtl. Fehler gehen daher auf meine Kappe: Tenside bestehen aus je einem hydrophoben (=wasserabweisenden) Teil und einem hydrophilen („wasserliebenden“) Molekülteil. Anders ausgdrückt, mischt sich ein Teil gerne mit Wasser, der andere nicht. Folglich neigen Tenside dazu, sich mit anderen Molekülen des gleichen Typs zu verklumpen, wenn sie in Wasser gegeben werden. Dadurch werden die hydrophoben Teile vor Wasser abgeschirmt. Und genau diese Strukturen sind auch in der Lage, Arzneistoffe in sich aufzunehmen und zu speichern.

Die Tenside in der Studie hatten eine negative elektrische Ladung und die Polymere (Polyelektrolyte) waren positiv geladen. Als die entgegengesetzt geladenen Tenside und Polyelektrolyte in Kontakt kamen, wurden sie voneinander angezogen und bildeten einen Komplex (daher „Tensid-Polyelektrolyt-Komplexe“). Mit dieser Methode wurde ein 3D-Medikamententrägersystem gebildet, indem abwechselnd Schichten aus Polyelektrolyt und Tensid in 3D gedruckt wurden. Darin lassen sich Wirkstoffmoleküle in Kapsel-, Pillen- oder Tablettenform speichern. Durch das Anbringen verschieden dicker Schichten mit unterschiedlichen Arzneimitteln und Trennschichten ist es bis zur vollständigen Polypille nicht mehr weit.

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Auf den vielzitierten Apfel pro Tag braucht man ja dennoch nicht zu verzichten …

Noch gibt es sie jedoch nicht, diese Polypille. Denn obwohl bereits viel Forschung betrieben wurde, befindet sich diese neue Form der Arzneimittelabgabe erst ganz am Anfang. Alleine für die behördliche Genehmigung werden nach bestandener klinischer Prüfung bis zu fünf Jahre angesetzt. Aber wer weiß, vielleicht bekommen einige von uns in fünf Jahren ein Rezept für individuelle Polypillen, die in der Apotheke vor Ort auf einem 3D-Drucker im Reinraum hergestellt werden.

Für Menschen, die auf Polymedikation angewiesen sind, klingt das doch fast schon zu schön, um wahr zu sein: nur noch täglich eine Tablette aus dem 3D-Drucker einnehmen zu müssen, anstatt sich den Tagesablauf von der Komplexität eines Medikationsplans mit seinen vielen Einnahmezeitpunkten, Ernährungs- und Wechselwirkungsregeln diktieren zu lassen.