Das E-Rezept – Symptome für den digitalen Umbruch

Derzeit halte ich nahezu wöchentlich Vorträge zum Thema „E-Rezept – was Apotheken wissen sollten.“ In den Vorträgen geht es stets darum, wie das E-Rezept nach dem jeweils aktuellen Planungstand vermutlich ausgestaltet werden wird. Außerdem beschreibe ich zwei Pilotprojekte, gebe Handlungsempfehlungen für Apotheken und zeige Best-Practice-Beispiele dafür, wie andere Apotheken hier schon jetzt aktiv auf ihre Kunden zugehen und ihnen sagen: „wir können E-Rezept!“

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Volles Haus beim Vortrag zum E-Rezept im Rahmen einer Kundenveranstaltung der awinta im Februar 2020

Ganz grob skizziert und aufs Wesentliche reduziert wird der Prozess wie folgt aussehen: der Patient bekommt seine Verordnung nicht mehr auf Papier mehr in die Hand. Stattdessen wird er das E-Rezept mithilfe seines Smartphones von einem zentralen Server abrufen können. Dieses kann er dann in eine Apotheke seiner Wahl schicken. All dies wird in der Telematikinfrastruktur (TI) erfolgen, einer Art geschlossenen „Hochsicherheits-Datenautobahn.“

Während meiner Vorträge zum E-Rezept blicke ich stets auf skeptische, verängstigte oder teilweise gar erschrockene Gesichter. Nach dem Vortrag ist dann immer noch Zeit – und Bedarf – für eine Fragerunde. Einige Fragen kommen bei so gut wie jedem Vortrag. Und diese Fragen haben es in sich. Sie sind berechtigt, sinnvoll und nachvollziehbar. Sie zeigen aber auch, dass der digitale Umbruch viel weiter reicht, als nicht nur meine Phantasie reicht, sondern auch die meiner Zuhörer im Auditorium. Lassen Sie mich das anhand von zwei dieser Fragen aufzeigen:

  1. Was machen alte Patienten ohne Smartphone?Apotheke Digitalisierung iPhone eRezept Smartphone
    Mir persönlich liegen keine Zahlen dazu vor, ab welchem Alter Menschen kein Smartphone mehr benutzen können. Wir wissen aber, dass es im Jahr 2019 in Deutschland rund 82 Mio. Einwohner gab. Diese hatten knapp 108 Mio. Mobilfunkverträge (das sind 131% der Bevölkerung). Das Internet hatte jedoch nur etwa 79 Mio. Nutzer (entspricht 96%). Wenn wir gedanklich noch die Säuglinge und Kleinkinder ohne eigenen Mobilfunk-Vertrag in die Rechnung mit aufnehmen und auch die Berufstätigen mit Zweithandy in Betracht ziehen, wird schnell klar, dass es selbst unter „den Senioren“ nicht mehr viele geben kann, die kein Smartphone haben.
    Werfen wir als nächstes einen realistischen Blick auf den Zeitraum der Einführung des E-Rezeptes. Bis Ende Juni 2020 wird die Spezifikation seitens der gematik veröffentlicht. Anschließend haben die Apotheken bis Ende September 2020 Zeit, sich an die TI anzuschließen. Parallel dazu wird auch auf die Arztpraxen durch Honorarabsetzungen der Druck erhöht, sich an die TI anzuschließen. Bloß: alleine dadurch wird noch kein einziges E-Rezept ausgestellt. Gehen wir also davon aus, dass 2021 noch ein „Jahr zum Üben“ werden wird, bevor es dann im Jahr 2022 schleichend mehr werden wird. Dann sind wir in der Hybrid-Phase, in der Papier und Digital nebeneinander existieren werden. Bis dahin werden aber die alten Menschen, die kein Handy mehr bedienen können werden, noch älter – oder sterben.
    Wird also es bis zur Flächendeckung des E-Rezeptes überhaupt noch jemanden geben, der kein Smartphone hat? Ich denke nein. Falls doch, so wird es immer noch die Möglichkeit geben, einen zum Abruf des E-Rezeptes benötigten Code auf Papier zu drucken, dieses dem Patienten mitzugeben und dadurch in der Apotheke das E-Rezept einzulösen. Ob das dann noch kostenlos ist oder mit Gebühren versehen wird, wie zum Beispiel Papierbelege in der Bank, werden wir sehen.
    Wir sehen an diesem Beispiel, dass wir überschätzen, was wir in 2 Jahren bewältigen können (nein, heute in 2 Jahren werden wir nicht 100% E-Rezepte in Deutschland haben) aber unterschätzen, was sich in 10 Jahren ändert: in 10 Jahren werden sowohl der demografische als auch der digitale Wandel dafür gesorgt haben, dass es keine alten Patienten ohne Smartphone mehr gibt.Apotheke Digitalisierung eRezept Smartphone
  2. Was mache ich bei Formfehlern? Wie kann ich Vermerke für die Krankenkasse auf dem E-Rezept anbringen?Apotheke Digitalisierung eRezept Verordnung Verschreibung
    Papier ist geduldig. Die meisten heutigen Arztsysteme haben für Verordnungen keine stringente Nomenklatur, wie sie es auf Apothekenseite mit der Pharmazentralnummer als ein-eindeutigem Schlüssel für Artikel des Apothekensortiments gibt. Aber: das rosafarbene Stück Papier ist nicht das Rezept. Unter Rezept verstehen wir eine ärztliche oder zahnärztliche Verordnung. Und was das ist, definiert die Auflistung in 2 Absatz 1 der Verordnung über die Verschreibungspflicht von Arzneimitteln (Arzneimittelverschreibungsverordnung – AMVV). Das Papier, welches wir als Muster 16-Rezept kennen, ist nur der Datenträger für die in der Verschreibung enthaltenen Informationen gemäß AMVV. In Ziffer 10 dieses Paragraphen wird die Verschreibung in elektronischer Form übrigens bereits ausdrücklich erwähnt.
    Was beim E-Rezept nun passiert, ist ein Wechsel des Datenträgers. Das geduldige Papier wird durch die wesentlich ungeduldigere TI ersetzt. Um gültige Rezepte auszustellen, müssen diese bestimmten (noch zu definierenden) Regeln entsprechen.
    Die TI ist kein Google, wo man irgendetwas eingeben kann und stets Treffer bekommt. Vielmehr kann man es mit einem Fahrzeugkonfigurator vergleichen. Dort sind auch nur die tatsächlich machbaren Kombinationen aus Karosserie, Fahrwerk, Motor, Ausstattung und Farbe möglich. Ähnlich kann man sich das auch für das Erstellen eines E-Rezeptes beim Arzt vorstellen.
    Unsere heutige Denkweise darüber, was eine Verordnung ist, ist geprägt vom Muster-16-Rezept. Dass unsere aktuelle Handhabe mit Korrekturen, Vermerken und Formfehlern den Sinn der zitierten Passage aus der AMVV ein wenig ins Absurde führt, ist vermutlich den wenigsten bewusst. Das E-Rezept wird dafür sorgen, dass es mehr Klarheit und Transparenz in ärztlichen Verordnungen geben wird. Der aktuelle Prozess, bei dem eine Verordnung von der Arztpraxis über den Patienten, die Apotheke, deren Abrechenzentrum bis hin zur Krankenkasse durch mindestens 5 Hände gereicht wird, ist fehleranfällig und ineffizient. Er ist aber auch jahrzehntelang praktizierter Usus, deswegen fällt es uns so schwer, ihn loszulassen.
    Aber warum hat die Digitalisierung denn unser Verhalten so stark verändert? Weil sie stets auf maximale Effizienz und Einfachheit abzielt. Bestes Beispiel hierfür: die Homepage von Google. Auf ihr gibt es (unter dem Logo) nur ein einziges Feld, in dem man etwas eingeben kann – aus mehr besteht sie nicht. Das ist genial einfach und äußerst effizient.
    Es würde mich überraschen, wenn die gematik mit ihrer aktuellen Besatzung die mangelhaften aktuellen Prozesse 1:1 in die Spezifikation des E-Rezeptes übernimmt. Dann würde zumindest ich mich Thorsten Dirks anschließen, dem ehemaligen CEO von Telefónica Deutschland, der im Jahr 2015 auf dem Wirtschaftsgipfel der ‚Süddeutschen Zeitung‘ so treffend von sich gab:

    „Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess.“

Apotheke Digitalisierung Prozess eRezeptBeim E-Rezept wird uns die technische Umsetzung problemlos gelingen. Bedenken habe ich aber im Hinblick auf die mentale Einstellung vieler Leistungserbringer. Statt nämlich die enormen Chancen zu erkennen, die im E-Rezept als Ausprägung der Digitalisierung stecken, halten viele momentan noch mit der typisch menschlichen Verlustaversion am bekannten Status Quo fest. Könnte man denn nicht einen solchen Einschnitt wie das E-Rezept zum Anlass nehmen, um zum Beispiel einen neuen, besseren Rahmenvertrag zu verhandeln?