Die Apotheke im Wandel – über Generationen hinweg

Mein Jurastudium habe ich mir vor allem durch einen Job in der Apotheke am Wohnort meiner Eltern finanziert. Als ich in der Römhild Apotheke in Dießen am Ammersee im Dezember 1993 anfing, war der Senior-Chef (Jahrgang 1912) immer noch – gelegentlich, aber täglich – im Handverkauf tätig. Er hatte zwar immer häufiger Probleme damit, die damals noch überwiegend handschriftlichen Rezepte zu entziffern und musste sich vor der Abgabe auch noch einmal selbst von einer Apothekerin oder einer PTA kontrollieren lassen, weil es nicht auszuschließen war, dass er in den Regalen des Generalalphabets daneben gegriffen haben könnte. Aber er wusste stets Bescheid über Wirkungen, Nebenwirkungen und Einnahmehinweise und war für die zahlreichen Kunden ein äußerst beliebter Gesprächspartner.

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Von meinem ehemaligen Senior-Chef habe ich leider kein Bild. Aber dieses Stockphoto ist ein gutes Symbol für die Wertschätzung, die ihm entgegen gebracht wurde.

Dann kam der April 1994 und mit ihm ein neues Warenwirtschaftssystem. Für den Senior-Chef war das der Anlaß, sich endgültig aus dem aktiven Verkauf zurück zu ziehen. Was ihn jedoch nicht davon abhielt, sich weiterhin jeden Tag ins Büro der Apotheke zu begeben. In diesem Büro saß damals meist ich am PC, um meine Verwaltungsaufgaben zu erledigen: Kunden im System anlegen, die eine Kundenkarte bekommen hatten; Personaleinsatzpläne mit den Urlaubsanträgen abgleichen; die Sichtwahl und den Übervorrat der Jahreszeit anpassen. Meist gegen 11 Uhr kam der Senior-Chef rein, hing seinen Mantel auf einen Bügel, stellte den Regenschirm in den Schirmständer – und dann erzählte er mir etwas aus seinem Leben – bevorzugt daüber, wie es früher einmal war.

So habe er noch gelernt, alle Arzneimittel selbst herzustellen. Nicht nur Salben und Tropfen, wie das heute noch bei Rezepturen vorkommt. Auch Tabletten, Kapseln und Dragees fertigte er zu Beginn seines Berufslebens noch selbst an. Bei einem dieser Gespräche hat er mir sogar einmal seine Approbationsurkunde gezeigt – für mich schauerlich, denn der Stempel von der zuständigen Behörde enthielt, wie es damals üblich war, den Reichsadler samt Hakenkreuz. Eigentlich habe er jedoch nach dem Studium der Pharmazie, das er u.a. in Göttingen und Königsberg geleistet hatte, noch ein Medizinstudium absolvieren wollen. Aber daraus wurde nix, denn es brach der Zweite Weltkrieg aus und seine Arbeit als approbierter Pharmazeut wurde als kriegsnotwendig definiert.

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So übernahm er eine Apotheke, die ihm zugewiesen wurde, freundete sich immer mehr mit dem Beruf an und versorgte die Bevölkerung mit Arzneimitteln während dieser dunklen Phase der deutschen Geschichte. Ein Vorkommnis, das er mir mehr als einmal erzählt hat, hat sich dabei tief in mein Gedächtnis gebrannt. Und davon will ich heute erzählen.

So sei eines Tages ein Bediensteter bei ihm in der Apotheke gewesen mit dem Auftrag, eine ärztliche Verordnung für seine Dienstherrin über Augentropfen in der Apotheke einzulösen. Diese Augentropfen enthielten Kokain als lokales Anästhetikum und mussten in der Apotheke hergestellt werden. Beim Anfertigen der Rezeptur sei ihm dann aufgefallen, dass die Dosis des Kokains ziemlich hoch zu sein schien. Zu hoch. Bei dieser Menge der Droge wäre die Patientin sogar mir Sicherheit erblindet. Also begab er sich zu Fuß zum verordnenden Arzt und zeigte ihm die Verordnung. Dieser wurde ganz bleich, als er feststellte, dass er sich um eine Zehnerpotenz nach oben verrechnet hatte.

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Die Dosis macht das Gift …

Das Rezept wurde angepasst, die Rezeptur mit der richtigen und unschädlichen Zusammensetzung angefertigt und dem immer noch wartenden Boten ausgehändigt. Kaum vorstellbar, was passiert wäre, wenn der Apotheker diesen Fehler nicht bemerkt hätte. Denn seine Apotheke, die ihm ja zugewiesen worden war, befand sich in Berchtesgaden. Sie war die Stammapotheke des Personals vom Berghof in Obersalzberg, der Zweitresidenz von Adolf Hitler – und die Patientin, um die es hier geht, war Eva Braun. Sowohl der Apotheker als auch der Arzt hätten mit schlimmsten Konsequenzen rechnen müssen, wäre diese Fehldosierung nicht in letzter Minute noch verhindert worden.

Einige Zeit nach dem Krieg hat der Apotheker dann eine Apotheke im schönen Dießen am Ammersee übernommen, diese dann im Jahr 1977 an seinen Sohn und dessen Ehefrau übergeben. Diese haben die Apotheke im Lauf der Jahre zu einem großen Gesundheitszentrum ausgebaut. Das Büro, in dem ich für ein paar Jahre meine Tätigkeit (und Gespräche) verrichtete, ist seit dem letzten Umbau im Jahr 2001 Teil der großen Verkaufsfläche und die Geschichten, die ich in diesem Büro erzählt bekommen haben, verblassen auch in meiner Erinnerung immer mehr.

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Der Raddampfer Diessen auf dem Ammersee

Bis auf diese eine. Sie erinnert mich nicht nur an die vielen Vormittage mit dem Senior-Chef, der 2005 verstorben ist. Vor allem macht sie mir eine in meinen Augen wesentliche Aufgabe des Apothekerberufs eindrucksvoll bewusst: das Medikationsmanagement. Stets ist der Apotheker die letzte Instanz, bevor Patient und Arzneimittel miteinander alleine gelassen werden. Fehler oder Unterlassungen, die hier geschehen, sind meist nicht mehr zu korrigieren. Und im schlimmsten Falle können diese Fehler tödliche Folgen haben.

Darin liegt auch die eine, dauerhafte und große Konstante in all den Veränderungen, welche die Digitalisierung mit sich bringt. Der Senior-Chef wollte sich die neue Warenwirtschaft nicht mehr zumuten und hat sich im Zuge ihrer Einführung aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen. Heute, eine Generation später, ist ohne Warenwirtschaft keine Apotheke mehr zu betreiben. Aber ohne Herausforderungen ist auch unsere Zeit nicht: das E-Rezept, Telemedizin, Versandhandel aus dem EU-Ausland und immer besser informierte Patienten (und solche, die glauben, es zu sein) sind nur einige der Themen, mit denen sich Apotheken im Jahr 2020 herumschlagen müssen. Von hohen bürokratischen Anforderungen, Lieferengpässen und der aktuellen Pandemie gar nicht zu sprechen. Die Zeiten ändern sich und mit ihnen Herausforderungen und Probleme.

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Als jemand, der inzwischen mindestens drei Generationen von Apothekern aus nächster Nähe begleiten durfte, finde ich das natürlich sehr interessant. Es gibt diese Essenz, die diesen faszinierenden Beruf ausmacht – und der in meinen Augen auch dauerhaften Bestand hat: die Beratung, die örtliche und persönliche Nähe sowie die Niederschwelligkeit, mit der Apotheken für ihre Kunden und Patienten jederzeit aufsuchbar sind. Alles andere darum herum unterliegt – schon immer – einem steten Wandel. Ihm kann man sich nur stellen, indem man sich bewußt macht, welche Werte so wichtig sind, dass es sie zu bewahren gilt. Alles andere sind im besten Falle lediglich Glaubenssätze, Ballast, den man über Bord werfen sollte, damit der Apothekerberuf auch für die nächste Generation erstrebenswert bleibt.

„Wir müssen uns darauf einstellen, dass es das Normale nicht mehr gibt. Es gibt auch nicht das neue Normale. Es gibt nur die dauerhafte Veränderung. Und wer diese ohne Angst, mit Zuversicht und Mut anpackt, der hat vermutlich ein relativ gutes Leben.“

Miriam Meckel, Professorin an der Universität St. Gallen und Gründungsverlegerin der digitalen Bildungsplattform „ada“, benannt nach der ersten Programmiererin der Welt, der Britin Ada Lovelace, in Steingarts Morning Briefing vom 09.09.2020.