Digitale Helfer für Menschen mit Beeinträchtigungen – Interview mit Gabriele Bunse

Gelegentlich kommt es vor, dass ich auf einen Blogbeitrag einen Kommentar oder sogar eine Zuschrift über die Kontakt-Seite bekomme. So auch kürzlich, als mich ein Kommentar erreichte, der in etwa aussagte, dass die hier vorgestellten Lösungen sicherlich alle sehr sinnvoll seien, es aber doch immer wieder Menschen gebe, die sie aufgrund von – meist körperlichen – Einschränkungen nicht nutzen konnten.

Natürlich hat mich das zum Nachdenken angeregt. Klar, ein Blinder wird die Einnahme seiner Tabletten ebensowenig auf dem Smartphone bestätigen, wie ein auf den Rollstuhl angewiesener Mensch ein Wearable benutzen wird, um seine Schritte zu zählen. Also habe ich, was häufig tue, der Absenderin geantwortet und wir sind in einen E-Mail-Dialog getreten, der sich ziemlich schnell auch um das Thema geriatrischer Beschwerden gedreht hat, und wie diesen von Apothekern und Pflegern als Team begegnet werden kann – stets unterstützt von digitalen Helfern. Schließlich ist der demografische Wandel kein neues Thema und wird sich auch auf die Digitalisierung der Apotheken massiv auswirken.

Als nächstes schaute ich mich auf der Homepage des Unternehmens meiner angenehmen Gesprächspartnerin ein wenig um. Dort fand ich, unter den Kooperationspartnern, die Apotheken einiger mir persönlich sehr gut bekannter Apotheker. Auch die Lösung des Unternehmens fand ich durchaus ansprechend – immerhin habe ich über eine ähnliche, aber weniger ausgereifte und weniger spezifische Lösung schon einmal geschrieben. Warum vertiefen wir das Gespräch also nicht auch an dieser Stelle in Form eines Interviews und lassen auch die Leser dieses Blogs daran teilhaben? Gesagt, getan …

Digitalisierung Apotheke E-Rezept eRezept Medikationsmanagement

Gabriele Bunse

 

Liebe Frau Bunse,

Sie sind Geschäftsführerin der AKVIGO GmbH, Ideengeberin von TAB in TIME, sind außerdem u.a. ausgebildete Kinderkrankenschwester und Mobilitätstrainerin für blinde Menschen. Sie verfügen über jahrzehntelange Erfahrung in der Sonder-/Behindertenpädagogik, der Arbeit mit blinden Menschen und „mehrfach Handicapped People“ sowie in der Neurologie/Psychiatrie, Praxis-Qualitätsmanagerin im Gesundheitswesen, Mediatorin und Neurolinguistische Programmiererin.

Frage: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für Menschen mit Handicap bei der Einnahme von Arzneimitteln?

Antwort: Im Handling. Die auf dem Markt erhältlichen Spender-, Dispenser-Systeme haben Schiebeverschlüsse oder Deckel, die geöffnet und geschlossen werden müssen. Ausgestattet mit kleinen Fächern, keinem Platz für den aktuellen Medikationsplan mit wichtigen Angaben, wie z.B. dem behandelnden Arzt oder personenbezogenen Daten und der Telefonnummer des nächsten Angehörigen. Die Platzierung der wichtigen Flüssigkeitszufuhr während und nach der Einnahme – bitte ausschließlich Wasser – fehlt! Das führt häufig zu „Trockeneinnahmen“ oder einer Einnahme mit Flüssigkeiten, die ihrerseits Wechselwirkungen hervorrufen können. Tropfen oder lösliche Tabletten können in diesen Systemen häufig gar nicht verabreicht werden. Blister-Tüten sind zwar eine wunderbare Ergänzung, die für Menschen mit motorischen Einschränkungen jedoch eine unüberwindbare Barriere darstellt. Denken Sie nur an Schlaganfall, Parkinson, MS,  Menschen mit Hemiparese, Tremor oder Arthrose. Solche Patienten müssen in der Regel Unterstützung von Angehörigen oder Pflegediensten in Anspruch nehmen, und das oft mehrmals täglich.

Wie kann die Digitalisierung Menschen mit Handicap hierbei unterstützen?

77% der Menschen wünschen sich eine „robotergestützte“ Hilfe für ihr Medikamentenmanagement und Getränke (vgl. die Ausgabe aus dem Mai 2018 der Zeitschrift „pdl.konkret“). Digitale, interaktive Assistenzsysteme könnten schon jetzt diesen wichtigen Teil ihres Alltags, die tägliche Tabletteneinnahme, sicher übernehmen. Sicher, selbstbestimmt, unabhängiger und eigenverantwortlich. TAB in TIME bietet die Möglichkeit, genau das zu realisieren. Barrierefreier Zugriff auf die ganz persönliche, tägliche und wichtige Tabletteneinnahme mit Flüssigkeitszufuhr (Wasser). Dadurch kann auch ein längerer Verbleib in der Häuslichkeit erreicht werden.

Welchen konkrete(n) Lösung(en) haben Sie für diese Herausforderungen in Ihrem eigenen Unternehmen entwickelt?

TAB in TIME. Ein barrierefreies Medikamentenmanagement. Es erinnert akustisch/ visuell so lange, bis die Tabletten eingenommen wurden. Wenn die nachhaltige Erinnerung – BITTE TABLETTEN EINNEHMEN – eine halbe Stunde lang nicht bestätigt wird, sendet das System automatisch eine SMS an die eingespeicherte Kontaktperson.  Wenn etwas nicht stimmt, z.B. Stromausfall, bei Fehlern, bei Nicht-,  Falsch – oder verfrühter Einnahme wird ebenfalls sofort eine Nachricht an die einprogrammierte Kontaktperson gesendet. Parallel zu den Tabletten wird das erforderliche Wasser zur Einnahme bereitgestellt.

Apotheke Digitalisierung Medikation Wasser Management

Das TAB in TIME System

DRINK in TIME, ein System zur nachhaltigen Flüssigkeitszufuhr, funktioniert auf der gleichen Basis wie TAB in TIME, allerdings sind die Becher in diesem Gerät ausschließlich mit Flüssigkeit gefüllt und es hat weniger  Erinnerungsaufforderungen. Auch dieses System sendet eine SMS, wenn nicht getrunken wird.

TABLOG, die Tablettenlogistik, ergänzt nicht nur das TAB in TIME System.

Welche Rolle kann die Apotheke hierbei heute und in Zukunft (Stichwort E-Rezept und E-Medikationsplan) einnehmen?

Sie könnte den direkten, digitalen Austausch zwischen Arzt, Patienten, Angehörigen, ambulantem Pflegedienst, Seniorenzentrum und Klinik fördern. Sie unterstützt schon heut bei der Vermeidung von Falsch-oder Nichteinnahmen, Informationsdefiziten, von Poly- und Selbstmedikationen. Die Therapietreue, Compliance, Adhärenz kann so besser gewährleistet werden. Dies ermöglicht auch ein viel besseres Zeit- und Kostenmanagement. E-Visite, E-Rezept, E-Medikationsplan sind die Zukunft und wären auch über den Computer von TAB in TIME möglich. Das braucht allerdings hier in Deutschland umfangreiche Zertifizierungen und Zulassungen. Die Entlastung der GKV/ PKV und der Solidargemeinschaft muss für die Zukunft im Fokus stehen

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, wie würde für Sie die Unterstützung chronisch kranker Menschen im Jahr 2030 aussehen? Welchen Anteil haben digitale Helfer und welche Tätigkeiten werden weiterhin von Menschen übernommen?

Digitale Helfer sind die Zukunft. In meiner Vision sind die Apotheker die zentralen Anlaufstellen und Unterstützer im Medikamenten-Versorgungs-Management; die Anlaufstelle für das gesamte Medikamentenmanagement im ambulanten/ stationären Bereich: Großhandel –  Apotheker – Kunde. Transparent, schnell, sicher, übersichtlich und kostensparend. Politik, GKV/ PKV und die Bürokratie sollten den Innovationen eine größere Plattform geben. Sehr guten Ideen von Start-Ups mehr Unterstützung bieten und die Möglichkeit der schnelleren Zulassung einführen. Wir brauchen Entbürokratisierung im Gesundheitswesen. Den digitalen Helfer brauchen wir schon lange. Multimorbidität und wachsenden Pflegezahlen stehen immer weniger Pflege-Fachkräfte gegenüber. Hebetätigkeiten können „Roboter“ übernehmen. Dito digitales Medikamentenmanagement, egal, ob ambulant oder stationär. Die Einsortierung der Tabletten kann über Computersysteme erfolgen. Auch das digitale Management in den Kliniken von der Bestellung beim Großhandel bis zur Einsortierung in die Regale, bis zum Patientenbett. Das geht. Die Lösungen sind da. Sie warten auf ihren Einsatz.  Apotheker sollten hier innovativ mitarbeiten. Der Mensch sollte hierbei die wichtige Aufgabe der Zuwendung, der Gespräche, der Entwicklung individueller Alltagskonzepte, der biographischen Arbeit mit dem zu pflegenden Menschen, der Körperpflege und der längerfristigen Erhaltung der Kernkompetenzen übernehmen.

Zum Abschluss: welche Nachricht haben Sie an die Apotheker, die diesen Blog lesen?

Denken Sie bitte an eine MeMa-Nurse, eine Medikamenten-Management-Schwester. Von der Apotheke zum Kunden in die Häuslichkeit oder in die individuellen Lebens-Zentren. Alles was mit Wechselwirkungen, Einnahmen, wie, wann, womit, wofür und weshalb zu tun hat, kann so beantwortet werden. Der Mensch muss verstehen, was und wofür er das nimmt. Dem  Apotheker sollten von politischer und GKV-/ PKV-Seite mehr Möglichkeiten zugeordnet und erstattet werden. Z.B. die Vereinzelung der Tabletten, um Kosten zu sparen. Wer außer dem Apotheker steht in so engem Dialog mit allen Beteiligten?

Die Apotheke der Zukunft? Digitalisierung! Ein direkter, schneller, sicherer, effizienter Organisations- und Kommunikationsprozess. Medikamententherapie durch einen intersektoralen Medikamentenplan.

Frau Bunse, ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch.