Der 19. Mai 2009 – was wäre wenn?

Vorweg: ich beziehe in diesem Beitrag keine Stellung PRO Apothekenketten. Ich versuche lediglich, ein Bild zu skizzieren, das aufzeigt, wie unsere Apothekenlandschaft heute aussehen würde, wenn der EuGH vor 9 Jahren anders entschieden hätte … 

Der 19. Mai 2009 war ein Dienstag. Zwischendurch regnete es immer wieder. Das weiß ich deswegen noch genau, weil ich an diesem Tag im Garten unseres Reihenhauses den frisch angelieferten Rollrasen verlegte. Ich hatte mir dafür sogar frei genommen, musste aber mein Handy (damals noch ein Modell von Nokia mit Tasten) auf Empfang lassen. Immerhin wurde an diesem Tag das Urteil des EuGH im sog. DocMorris-Prozess verkündet, welches auch für das Unternehmen, bei dem ich damals arbeitete, massive Auswirkungen gehabt hätte.

Zur Erinnerung: im Jahr 2006 hatte die Landesregierung des Saarlands einer von DocMorris betriebenen Apotheke die Betriebserlaubnis erteilt. Dagegen hatten die Apothekerkammer des Saarlands und eine Apothekerin geklagt und schließlich in letzter Instanz vor dem EuGH in Luxemburg dahin gehend Recht bekommen, dass die Regelung nach deutschem Apothekengesetz, wonach nur studierte Pharmazeuten Apotheken besitzen und betreiben dürfen, mit dem EU-Recht auf Niederlassungsfreiheit vereinbar ist. Kurz: die Apothekenketten in Deutschland waren abgewendet.

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Gebäude des EuGH in Luxemburg

Was wäre denn passiert, wenn der EuGH anders entschieden hätte? Welche unmittelbaren Auswirkungen hätten wir in den Apotheken und bei deren direkten Dienstleistern gespürt? Wäre das auch eine Disruption gewesen?

Wenn ich mich recht erinnere, besaßen damals alle internationalen Unternehmen, die im Ausland bereits Ketten betrieben haben, Vorverträge für den Kauf einer nicht irrelevanten Anzahl von Apotheken. Innerhalb weniger Wochen wären also Apotheken verkauft und zu Kettenapotheken umfirmiert worden. Außer dem neuen Namen hätte sich für die Kunden aber wenig geändert: das angestellte Personal hätte dort, wo dies nicht ohnehin im Plan vorgesehen war, übernommen werden müssen. Viele vormalige Inhaber hätten im Angestelltenstatus weiter machen können.

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Fremdbesitz? Für manche Apotheker hätte das nicht mehr bedeutet als: „Krawatte zurecht rücken, weiter machen …“

Dramatischer wäre der Umbruch für die Dienstleister geworden: die pharmazeutische Industrie hätte über ganz andere Mengen, Skalen und Rabatte mit den Apothekenbetreibern verhandeln müssen. Das hätte wiederum den Kostendruck auf die noch verbleibenden inhabergeführten Apotheken erhöht, mittelfristig hätten eine Vielzahl der verbleibenden unabhängigen Apotheken vermutlich alleine deswegen schließen müssen.

Besonders dramatisch wäre es für die Warenwirtschaftsanbieter geworden. Alle großen Kettenbetreiber arbeiteten damals wie heute im europäischen Ausland mit SAP for Retail als Enterprise Ressource Planning System (kurz „ERP“). Ein ERP verwaltet sämtliche Ressourcen, kann dabei Bestände, Ab- und Zugänge filialübergreifend steuern und das Ganze auch noch finanzamtskonform dokumentieren. Das einzige, was SAP nicht kann, ist die pharmazeutische Betreuung. Und alleine das wäre dann vermutlich die weitere Existenzberechtigung der heutigen Anbieter gewesen: Hersteller einer Kasse mit Apothekenfunktionen. Das komplette Backoffice wäre zu SAP abgewandert, inklusive aller darin enthaltenen Daten, aus denen sich weitere Einnahmen, beispielsweise durch den Verkauf in anonymisierter und aggregierter Form an Marktforschungsunternehmen generieren lässt.

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Wie viel von dem, was die Warenwirtschaft heute alles verwaltet, wäre noch übrig geblieben?

Für die Entwicklung einer Bildschirmkasse mit SAP-Schnittstelle braucht man natürlich weniger Personal, als für ein komplettes und komplexes Warenwirtschaftssystem. Das hätte auf der einen Seite zu Mitarbeiterabbau und Verlust von Know-How geführt. Auf der anderen Seite hätten sicher auch genügend Apotheker aus – gewiss nachvollziehbarem – Protest den Anbieter gewechselt, wenn gerade der ihre (um seine eigene Existenz zu sichern) mit einer Apothekenkette Verträge geschlossen hätte. Verlockend aus Sicht der Anbieter war damals die Aussicht, nicht Apotheken einzeln (oder im „Viererpack“ bei großen Filialverbünden) unter Vertrag nehmen zu können, sondern Lizenzen für mehrere 100 Apotheken auf einen Schlag verkaufen zu können. Vom Ertrag her mag das weniger interessant gewesen sein – von der mittel- und langfristigen Planbarkeit für ein kleines oder mittelständisches Unternehmen hingegen sehr wohl.

headphones-1816350_1920Die großen, internationalen Ketten hätten auch mit sehr strengen „Service Level Agreements (SLA)“ hantiert. Die vertragliche Pflicht zur schnellen Fehlerbehebung mit äußerst geringen zeitlichen Toleranzen hätte immerhin im Supportbereich zum Vorhalten ausreichender personeller Ressourcen geführt. Vermutlich aber – und hier spekuliere ich lediglich – mit Exklusivität für die zur Kette gehörenden Apotheken und nicht zum Einsatz für alle übrigen Kunden.

Natürlich wären die Verhandlungen über all das nicht mehr auf Deutsch, sondern vermutlich ausschließlich auf Englisch geführt worden. Auch Lasten- und Pflichtenhefte sowie Verträge wären im besten Fall zweisprachig, vermutlich aber ebenfalls nur auf Englisch verfasst worden. Sprachkenntnisse beim Dienstleister in einem ansonsten rein deutschen Markt wären sehr schnell relevant geworden. Für Mitarbeiter mit Interessen oder Stärken in diesem Bereich hätten sich dadurch neue Perspektiven gegeben.

Und auch für Apotheker, die sich eine Selbstverwirklichung als Angestellter zutrauen, hätte es in den Organisationen der Ketten sicherlich interessante Karriereperspektiven gegeben.

pedestrian-zone-552722_1920Heute, fast 10 Jahre später, wäre diese alternative Realität, die niemals eingetreten ist, das neue „Normal“. Die Logos der Kettenapotheken würden sich nahtlos in deutsche Innenstädte einfügen, neben Rossmann, Fielmann und H&M. In den Ketten gäbe es für alle Angestellten verbindliche QM-Systeme. Je nach persönlicher Einstellung und Tagesform des Mitarbeiters könnte so eine ordentliche Beratungsqualität sicher gestellt werden. Viele junge Apotheker würden über Selbständigkeit gar nicht mehr nachdenken. Aber nach wie vor würde es auch erfolgreiche inhabergeführte und unabhängige Apotheken geben – diese müssten sich aber ganz spitz gegen den finanziell mächtigeren Konkurrenten der Kette positionieren. Schwer, aber nicht unmöglich.

Und die Warenwirtschaftsanbieter? Das Geld der Ketten hätte denjenigen, die ins Geschäft gekommen wären, kurzfristig finanziellen Aufwind verschafft. Ein gut beratener Kettenbetreiber hätte sich jedoch für ein Softwarehaus vertraglich ein Vorkaufsrecht einräumen lassen, so dass die meisten Anbieter heute reine IT-Abteilungen der Ketten-Konzernzentrale wären. Andere würden als Nischenanbieter weiterhin bestehen, vermutlich aber kleiner als heute.

Interessant fände ich persönlich noch, wie sich berufspolitisch aktive Apotheker sowie die Kammern und Verbände im Laufe der Zeit gegenüber ihren – bei Kapitalgesellschaften angestellten – Kollegen positioniert hätten. Stellen Sie sich nur einmal vor, man könnte, wie auf TripAdvisor, auch Apotheken bewerten. Stellen Sie sich weiter vor, die Ketten würden dabei genauso gut oder besser abschneiden als die inhabergeführten Apotheken. Müsste man sie im Rahmen einer patientenorientierten Versorgung nicht ebenso voll berücksichtigen und in die Gremien mit aufnehmen? Könnten sie evtl. sogar von der (hier unterstellten) Finanzkraft der Shareholder profitieren und Innovationen aus der Apothekerschaft heraus vorantreiben?

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Wie wäre das Feedback der Patienten zu den Kettenapotheken?

Diesen Beitrag möchte ich ausdrücklich nicht als Stellungnahme PRO oder CONTRA Kettenapotheken verstanden wissen! Es ist aber davon auszugehen, dass dieses Thema eines sicher nicht allzu fernen Tages wieder auf die politische Agenda kommt.

Daher lade ich alle Akteure im Gesundheitsmarkt dazu ein, sich schon heute Gedanken darüber zu machen, was ein grundlegender Umbruch  – und der Wegfall des Fremdbesitzverbots kann hier gerne als ein Beispiel für viele betrachtet werden – für ihren Arbeitsalltag und die strategische Ausrichtung bedeutet. Wie positionieren Sie sich, wenn aus „Neu“ das neue „Normal“ geworden ist. Diesem Zweck alleine diente das Gedankenspiel in diesem „was wäre wenn“ …