Kapitel 16: die Gesetze der Evolution

In den ersten 3 Teilen haben wir die Bausteine der immer kleiner werdenden Geräte, die sich miteinander vernetzen und vor allem mit Daten agieren, intensiv erörtert. Im vierten Teil soll es nun darum, gehen, was wohl heraus kommt, wenn man die bisherige Entwicklung konsequent weiter spinnt. Am Ende vielleicht doch mehr Evolution als Revolution?

Betrachtet man die Erfindungen und technologischen Erneuerungen der letzten Jahrhunderte, so wird man feststellen, dass sie den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, wie sie auch in der Evolutionsbiologie postuliert werden. Denn wahrscheinlich haben viele der Dinge und Gegenstände, die wir heute als alltäglich betrachten, irgendwann einmal auf disruptive Art und Weise andere – weniger gut angepasste – Sachen verdrängt und abgelöst. Genau darin steckt die Verwandtschaft zu den Grundsätzen der Charles Darwin zugeschriebenen Evolutionstheorie: nämlich dass diejenigen (Lebewesen), die sich veränderten Umweltbedingungen am besten anpassen, den weniger anpassungsfähigen überlegen sind. Mit Lebewesen haben wir es zwar nicht zu tun, dennoch gibt es erstaunliche Parallelen, die uns bei genauerer Betrachtung sogar einen Blick in die Zukunft erlauben werden. Wenn wir bei den Begrifflichkeiten jetzt noch das Wort „Lebewesen“ durch „Technologie“ ersetzen, dann sollten wir in diesem Kontext Gattungen, die andere Gattungen abgelöst haben (so wie nach den Dinosauriern die Säugetiere zur beherrschenden Gattung wurden), als „Ersatztechnologien“ bezeichnen.

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Statue von Charles Darwin im Museum of Natural History, London

Eine Ersatztechnologie war zum Beispiel die Eisenbahn bzw. das Auto. Bis zur Einführung dieser Fortbewegungsmittel wurden längere Strecken meist zu Pferd oder auf anderen Lasttieren zurückgelegt. Historisch belegt ist beispielsweise die Überquerung der Alpen mit Elefanten durch Hannibal im zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Durch die industrielle Revolution stieg das Bedürfnis, Waren und Menschen schneller und zuverlässiger von einem Ort zum anderen zu bringen. Pferde sind hierfür nicht mehr robust genug, können krank werden, sich verletzen und brauchen Ruhepausen (gleiches gilt für Elefanten.) Eisenbahnen (und natürlich auch Autos) sind im Vergleich dazu robuster, zuverlässiger und ihr Einsatz ist deutlich besser planbar. Außerdem können sie ohne Rücksichtnahme auf biologische Zyklen und Paarungswillen reproduziert werden, indem man einfach eine weitere Eisenbahn (bzw. ein weiteres Auto) baut.

Ein weiterer Aspekt, der sich mit der Evolutionsbiologie vergleichen lässt, ergibt sich, wenn man neue Technologien so betrachtet, als seien sie „Populationen“: in der Biologie ist es so, dass beim Aufeinandertreffen zweier Populationen so gut wie niemals die eine Population die andere komplett verdrängt. Hierzu gibt es viele, sehr einleuchtende Beispiele:

  • Der Gänseschwarm, der einen Teich im Wald bewohnt, wird von einer umherstreunenden Fuchsherde entdeckt. Die hungrigen Füchse werden umgehend am Teich sesshaft und fangen dann genüsslich an, zunächst einmal die Gänse zu reißen. Dadurch wird die Anzahl der Gänse im Schwarm dezimiert – und zwar langfristig, da es vorher ja keine Füchse am Teich gab, welche die Population dezimiert haben. Irgendwann reichen die Gänse dann aber nicht mehr aus, um alle Füchse satt zu bekommen. Einige Füchse verhungern, ihre Anzahl nimmt zwangsweise ab. Der Jagddruck auf den Gänseschwarm nimmt dadurch wieder ab. Die Gänse kommen zur Ruhe und legen mehr Eier; sie nehmen dann in der Anzahl der Individuen wieder zu. Dadurch können wiederum mehr Füchse ernährt werden, wodurch auch deren Anzahl wieder zunimmt – was sich wiederum negativ auf die Gänse auswirkt. Und so weiter. Dieses Spiel setzt sich so lange fort, bis sich ein biologisches Gleichgewicht, Equilibrium genannt, eingestellt hat.
  • Auf dem amerikanischen Kontinent lebten in präkolumbianischer Zeit die Ureinwohner, wir nennen sie heute Indianer bzw. Eskimos. Diese wurden mit dem Eintreffen der europäischen Siedler durch Kriege und Krankheiten, gegen welche die Europäer schon immun waren, die Ureinwohner aber nicht, zwar aufs heftigste durchgebeutelt – aber ausgestorben sind die Wenigsten. Viele der Stämme existieren zwar heute nicht mehr in der alten Form als Stammesgemeinschaft in einem gemeinsamen Gebiet, aber ihre Gene und teilweise auch ihre Identitäten leben in den Nachfahren bis heute fort

Beispiel aus: Greg Graffin, „Population Wars: A New Perspective on Competition and Coexistence“, Macmillan, New York City, 2015

  • Selbst wenn man unser eigenes Genom heute betrachtet, zum Beispiel durch eine Analyse über 23andme.com (vgl. Kapitel 15) stellen wir fest, dass wir alle durchzogen sind von – genetischen – Einflüssen aus allen Teilen der Welt. Aufgrund der Völkerwanderungen der letzten Jahrhunderte bzw. sogar Jahrtausende, haben wir alle einen großen Teil genetischen Erbes in uns, der nicht aus unserem Geburtsland stammt. Sogar vom Neandertaler stammt bei jedem Mitteleuropäer und Asiaten zwischen 1 und 4 % des Erbguts.

Beispiel aus: Yuval Noah Harari, „Sapiens: A Brief History of Humankind“, Random House, 2014

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DNA-Spuren des Neandertalers finden sich auch heute noch in unserem Erbgut.

Und so, wie in der Biologie die eine Population in den seltensten Fällen eine andere komplett auslöscht (das Aussterben von Arten ist grundsätzlich kein ungewöhnlicher Prozess in der Natur – in wieweit der Mensch für das Aussterben bestimmter Arten verantwortlich ist, soll daher hier nicht weiter betrachtet werden), ist es auch in der Technologie: eine neue Technologie hat in den seltensten Fällen die Vorgängertechnologie komplett ersetzt. Auch hierzu einige Beispiele:

  • Pferde als Fortbewegungsmittel gibt es nach wie vor in vielen Teilen der Welt. Zum Beispiel in Ländern der sog. „Dritten Welt“, wo sich viele Menschen kein Auto leisten können oder ohnehin einen Bauernhof bewirtschaften und somit das Pferd näher liegt. Oder bei Gemeinschaften, die sich bewusst – meist aus religiösen Gründen wie bei den Amish-People in Teilen der USA – bestimmten modernen Technologien, wie dem Auto, verweigern, haben Pferde als Transportmittel bis heute Fortbestand.
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    Straßenschild in Pennsylvania, USA

  • Die E-Mail hat den Brief bis heute nicht verdrängt. Ebenso wenig das Fax, auch wenn dessen Einsatzbereiche nach wie vor kontinuierlich abnehmen. Auch Printmedien, deren Auflagen zwar rückläufig sind, und klassische Gesellschaftsspiele, werden von ihrem digitalen Pendant zwar unter hohen Kostendruck gesetzt – es gibt sie aber nach wie vor.
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    Auch Münzfernsprecher gibt es noch. Wer die wohl noch nutzt?

  • Trotz der Erfindung einer tollen Technologie namens „Induktionsherd“ erfreut sich, insbesondere bei Männern und Außentemperaturen oberhalb von 25 Grad Celsuis, der Holzkohlegrill nach wie vor sogar allerhöchster Beliebtheit.
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    Wir Männer essen gerne so wie unsere Vorfahren

Es gibt noch eine letzte Parallele zur Biologie, deren Betrachtung in diesem Kontext lohnenswert ist. Wie eben erwähnt, tragen wir alle Neandertal-Gene in uns. Es gab also, bis vor ca. 30.000 Jahren, mehrere Arten innerhalb der Gattung „Homo“. Eine Spezies aus der Gattung der Hominiden, den Homo Sapiens, gibt es heute noch – alle anderen nicht. Eine Spezies, die mit den anderen vergleichbar war und, je nach Standpunkt, den anderen Spezies derselben Gattung noch nicht einmal unbedingt überlegen war, hat sich durchgesetzt. Auch das ist evolutionsbiologisch erklärbar, interessant wird es beim Transfer auf die Ebene von Technologien und Innovationen.

Als sich das Auto durchzusetzen begann, kamen viele Unternehmen auf den sich damals neu bildenden Markt, die einen enorm hohen Ruf und Markenwert hatten. Heute kennt kaum noch jemand Marken wie „Hispano-Suiza“, „NSU“ (zumindest nicht in diesem Zusammenhang), „Duesenberg“, „Simca“ oder „Stutz“. Sie alle waren aber in der Pionierzeit des Automobils bzw. kurz danach führende Hersteller. Und sie alle gibt es heute nicht mehr. Andere Marken, wie Daimler-Benz oder Chrysler stammen aus der gleichen Zeit und haben sich behauptet.

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Hispano-Suiza H6B „Xenia“ aus dem Jahr 1938 – kennen heute nur noch Autoliebhaber

Man sieht also, dass innerhalb einer Technologie, die sich etabliert hat – ähnlich wie bei einer biologischen Gattung – erneut ein Selektionsprozess stattfindet, aus dem nur diejenigen gestärkt herausgehen, die sich den verändernden Umweltbedingungen bestmöglich angepasst haben. Während es bei der Gattung der Hominiden nur einen Überlebenden gab, so gibt es andere Gattungen, z.B. die Felidae (Katzen), mit einer deutlich größeren Artenvielfalt. Ähnlich wird es bei den neuen, digitalen Technologien sein. Sie werden sich per se – als Gattung, quasi – durchsetzen.

Doch spinnen wir das Beispiel der Automarken einmal weiter und wagen den Transfer in die digitale Welt. Einstmals führende Firmen wie AltaVista im Bereich der Internet-Suchmaschinen, die ihr Produkt erstmals Ende 1995 vorgestellt haben und den Betrieb letztlich Mitte 2013 eingestellt haben (durch eine dauerhafte Umleitung auf Yahoo), wird es noch viele geben. Es ist ein Kommen und ein Gehen – und wer glaubt, dass Google eine Existenzgarantie bis zum jüngsten Tag hat, der täuscht sich. Aber Suchmaschinen für das Internet als solche wird es geben, so lange es das Internet oder eine Nachfolgetechnologie gibt.

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Welche Suchmaschine unsere Kinder wohl mal nutzen werden?

Komplexe Systeme, wie neue Technologien, sind nicht im eigentlichen Sinne „biologisch“, ähneln dem Biologischen aber insofern, als dass sie sich vermehren und replizieren, wachsen und sogar aussterben können. Nassim Nicholas Taleb formuliert es so:

Sie haben sie mehr Ähnlichkeit mit der Katze als mit der Waschmaschine, werden allerdings häufig irrtümlicher Weise für eine Waschmaschine gehalten.

Nassim Nicholas Taleb, „Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen“, btb-Verlag, München, 2014, S. 90f.

Dadurch würden wir die weitreichenden und komplexen Auswirkungen unterschätzen, die solche Systeme und Technologien auf alle Bereiche des Lebens haben können. Die Waschmaschine lässt ihr Programm nach einer vorgegebenen Routine ablaufen, während sich die Katze oft scheinbar irrational verhält, ihre Launen hat und ihre Reaktionen nicht immer vorhersehbar sind. Genauso wenig können wir die Konsequenzen absehen, die es haben wird, wenn sich bestimmte neue Technologien dauerhaft durchsetzen und in unseren Lebensalltag integriert werden.

Und „integriert werden“ meine ich durchaus wörtlich: digital und analog werden eins werden.