Im letzten Beitrag habe ich skizziert, wie Sensoren laufend unsere Gesundheit messen und nahrungsergänzende, arzneilich wirksame Stoffe automatisch in unser Essen und Trinken einspeisen, beispielsweise durch 3D-Druck. Beratungsgespräche finden dabei meist per Videoübertragung aus den eigenen 4 Wänden heraus statt.

Überall angebrachte Sensoren überwachen unsere Gesundheit auf Schritt und Tritt
Aus dieser Vision lassen sich Folgerungen ableiten, die sich direkt auf den Apothekenberuf der Zukunft auswirken. Auf diese Folgerungen möchte ich nun in diesem Beitrag eingehen. Die Frage, ob wir hierbei tatsächlich über das Jahr 2050 sprechen oder ob wir mit dem Umbau der Apothekenwelt schon früher starten sollten, würde ich hier gerne mit einem Zitat von Bill Gates aus dem Jahr 1996 beantworten:
„Wir überschätzen immer die mögliche Veränderung der nächsten zwei Jahre und unterschätzen die mögliche Veränderung der nächsten 10 Jahre!“
Wie zutreffend diese Weisheit des Microsoft-Gründers ist, habe ich in meinem Berufsleben schon gelegentlich miterlebt. Wie oft wurden in unserer Branche Innovationen für einen bestimmten Zeitpunkt angekündigt – ja, gelegentlich auch von mir – nur, um dann zu diesem Zeitpunkt eben noch nicht einsatzbereit zu sein. Und dennoch: meine Arbeitswelt, die Schnittmenge von IT und Apotheke, war vor 10 Jahren definitiv eine komplett andere als heute.
Für die postdigitale Apotheke betrachte ich daher die folgenden Paradigmenwechsel als gegeben:
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Auslaufmodell Normpackung
Das Zeitalter der Fertigarzneimittel ist vorüber. Wenn Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel direkt in unsere Nahrung eingebettet werden, braucht es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine genormten Packungsgrößen mehr. Auch wenn der 3D-Druck im Arzneimittelbereich im Moment noch als überhypter Trend der Digitalisierung gilt, so sollten wir uns davon nicht den Blick auf das enorme Potential dieser Technologie versperren lassen. Viele Implantate und orthopädische Schienen werden heute schon im 3D-Druck-Verfahren hergestellt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Entwicklung hier aufhören wird. Wo wird man also die biologischen und chemischen Grundsubstanzen für den Arznei-3D-Drucker kaufen? Natürlich in der Apotheke, denn diese Wirkstoffe werden nach wie vor pharmazeutische Beratung erforderlich machen. Aber …
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Beratung und Lieferung in den eigenen 4 Wänden
Die Beratung wird sich verlagern hin zum „Point-of-Care,“ an welchem der Patient auch die Lieferung seiner Arzneimittel entgegen nehmen wird. Dieser Ort der Behandlung wird immer dort sein, wo sich der Kunde oder Patient gerade aufhält. Videokonsultation per Smart Wall erlaubt hierfür auch die Kommunikation mit allen Sinnen: neben dem semantischen Inhalt, der über die Sprache vermittelt wird, kann der beratende Heilberufler auch auf Gestik, Mimik und Körperhaltung des Patienten achten. Künstliche Intelligenz unterstützt dabei die menschliche Wahrnehmung und arbeitet dieser zu. Für Apotheker heißt das, dass sie noch mehr als heute die eigene Observation mit den Informationen aus Computersystemen zu koppeln lernen müssen. Auch die Ärzte werden zunehmend telemedizinisch diagnostizieren. Schon heute können Patienten in Baden-Württemberg Muttermale, die ihnen verdächtig vorkommen, mit dem Smartphone abfotografieren und an einen Hautarzt zur Analyse schicken. Antwort innerhalb von 48 Stunden garantiert. Aber …
Chatbots werden große Teile der Beratung übernehmen. Schon heute gibt es mit ADA Health (als App zum Herunterladen) oder Florence (die man einfach im Facebook Messenger anschreiben kann) Chatbots. Diese basieren auf Künstlicher Intelligenz und können eine Erstanamnese erstellen. Der Ablauf ist immer gleich: der Patient beschreibt in freier Sprache seine Symptome, der Chatbot stellt Rückfragen, die meist mit Multiple-Choice-Antworten beantwortet werden, und erteilt dann einen Ratschlag – oder verweist an einen Arzt. Die hierbei erfassten Informationen sind übrigens äußerst wertvoll für die Triage zwischen dringenden und nicht dringenden Fällen. Natürlich kennt Florence auch die nächstgelegene Apotheke. Wenn man Beratungsleitlinien aus der Apotheke abstrakt betrachtet: auch diese sind festgelegte Abläufe von Fragen, bei denen die Beantwortung einer Frage immer Auswirkungen auf die Folgefrage hat. Kurz: es sind Algorithmen. Diese kann ein Chatbot inhaltlich genauso effektiv erfassen wie ein Mensch.
Wozu brauchen wir dann noch Apotheken? Nun, Apotheken, die nicht im Stande sind, ihre Kunden emotional abzuholen und mit zusätzlichen Angeboten „zum Mitnehmen“ zu versorgen, haben dann keine Existenzberechtigung mehr. Es wäre wünschenswert, wenn es den Apotheken gelänge, sich als Ort der Begegnung und der sozialen Interaktion zu positionieren. Aber mal Hand aufs Herz: als Sie das letzte Mal als Kunde in einer anderen Apotheke als der eigenen waren – wie war da das Einkaufserlebnis für Sie? Ist das Apothekenpersonal auf Sie eingegangen? Hat es Interesse an Ihnen, Ihren Symptomen und Bedürfnissen gezeigt und konnte es diese befriedigen? Falls ja: wunderbar, diese Apotheke wird es auch im Jahr 2050 noch geben …
… vorausgesetzt, sie schafft es, mit anderen Apotheken zu kooperieren. Die postdigitale Logistik wird um einiges aufwändiger sein als die heutige. Der Standardvertriebsweg für die Ingredienzien der 3D-Drucker wird der Botendienst oder der Versand sein. Kooperative Modelle der Zusammenarbeit verteilen die Kosten hierfür auf alle Teilnehmer. Es ist schon heute zu hinterfragen, ob wirklich jede Apotheke ein oder mehrere Botenfahrzeuge unterhalten muss, wenn 500 Meter nebenan die nächste Apotheke einen eigenen Fuhpark hat – und beide 95% ihrer Betriebszeit ungenutzt auf dem Hof stehen. Partnerschaften mit marktfremden Logistikunternehmen werden bis dahin etabliert sein. Und neben der reinen Logistik, mit der Ware an den Point-of-Care geschafft wird, wird auch ein Ladenkonzept, das Kunden zum Verweilen einlädt, unverzichtbar werden.
Im Jahr 2017 war das beliebteste Einzelhandelsgeschäft in Deutschland die Drogeriemarktkette dm. Mich erinnert dm immer ein wenig an die nordamerikanische „Pharmacy“ – nur eben ohne den RX- und OTC-Bereich. Aber wenn die Zielgruppe dort gerne einkauft … warum warten wir dann, bis jemand anderes genau dieses Einkaufserlebnis mit Arzneimitteln und „RX-Corner“ anbietet? Bei dm gibt es zum Beispiel eine Spielecke für Kinder. Wer selbst Kinder hat, weiß, wie anstrengend Einkaufen mit Kindern sein kann. Bei dm hat man so die Chance, die Kinder in der Spielecke zu „parken,“ um dann in Ruhe Dinge des täglichen Bedarfs einzukaufen. Chroniker nehmen ihre Arzneimittel übrigens in aller Regel täglich – definitionsgemäß gehören sie also zum täglichen Bedarf. In Nordamerika gibt es in den „Pharmacies“ dazu noch Parfums, Kosmetik, teilweise Spielwaren und sogar ein kleines Lebensmittelsortiment. Also Ware, die man auf dem Nachhauseweg noch schnell mitnimmt, weil man eh am „Drugstore“ vorbei fährt. Und das Rezept (bzw. dann das eRezept für die Substanzen des 3D-Druckers) – klar, das kann man dann auch gleich noch einlösen. Bis auf die Spielecke, die ich auch schon in einigen deutschen Apotheken gesehen habe, ist der Rest dieser Idee heute fast undenkbar. Aber ein Blick auf den Titel dieses Beitrags genügt: über das Heute sprechen wir an dieser Stelle ja gar nicht …
Die radikalen Veränderungen, denen Apotheken in meinem Gedankenexperiment unterlaufen werden, scheinen unausweichlich. Das Moore’sches Gesetz, das seit dem Jahr 1965 wie ein Naturgesetz gilt, hat weiterhin Bestand. Die bisherige rasante Entwicklung wird also auch in absehbarer Zeit weiter gehen. Spinnt man diese Entwicklungen linear weiter, kommt man zu der postdigitalen Apotheke, die ich eben skizziert habe.
Allerdings postuliert das Moore’sche Gesetz eben keine lineare, sondern eine exponentielle Entwicklung. Und diesen Gedanken mit einigen seiner Implikationen möchte ich dann im nächsten Beitrag weiter spinnen. Denn eventuell kommt ja alles ganz anders …