Krank wegen Digitalisierung?

An dieser Stelle berichte ich gerne über die unzähligen Chancen und Vorteile, welche die Digitalisierung für die Apotheke und ihre Kunden mit sich bringt. Das momentan sicherlich meist diskutierte Beispiel hierfür ist das E-Rezept: es hat einerseits enormes Potential, um bislang komplizierte Prozesse im Rahmen von Verordnungen zu verschlanken, das Lager zu optimieren und die Kundenbeziehung auch auf der Ebene von Medikamenten zu digitalisieren. Andererseits gibt es auch ein unwägbares Risiko, denn die nächste Versandapotheke ist für OTC-Artikel schon jetzt immer nur einen Klick weit entfernt; aber während man bisher Papier-Rezepte noch in ein Kuvert packen, frankieren und per Post versenden musste, gilt die Entfernung „ein Klick“ in Zukunft eben auch für ärztliche Verordnungen. Aber gibt es zusätzlich zum allgemeinen Geschäftsrisiko, das jede Innovation stets mit sich bringt, auch Gefahren für die Gesundheit, die ohne Digitalisierung undenkbar wären?

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Gibt es posttraumatische Belastungsstörung bei Ego-Shootern wie Fortnite?

Bei technologischen Entwicklungen kann man niemals von vornherein ausschließen, dass sie für die Entstehung bisher unbekannter Krankheiten und Zustände (mit)verantwortlich sein können. Ein Beispiel: haben Sie zufällig einen Sohn im Teenager-Alter? Dann kennen Sie das Spiel Fortnite aus dem Genre der sog. „Ego-Shooter.“ Auch unser Sohn hatte eine Phase, während der er dieses Spiel täglich mit seinen Freunden online gespielt hat – auch das kennen Sie vermutlich. Damals, kurz nachdem der Hype um Fortnite auf dem Höhepunkt war, ist meiner Frau und mir augefallen, dass unser Sohn damals oft hektisch wirkte, häufiger als sonst mit seinen Fingern knackste und über nichts anderes als Fortnite sprechen wollte. Diese Symptome erinnerten mich ein wenig an die einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Kann es also so etwas wie eine virtuelle posttraumatische Belastungsstörung (v-PTBS) geben? Zuverlässige Quellen hierzu finden sich im Internet kaum, jedoch wird in der Tat vereinzelt von Fällen berichtet, in denen genau diese Diagnose solchen Spielern gestellt wurde, die zu exzessiv an großen virtuellen Kämpfen mit VR-Brillen teilgenommen haben. Sie wiesen vergleichbare Symptome auf wie Soldaten, die in echten Kriegen gekämpft haben.

Aber offenbar macht auch bei Computerspielen die Dosis das Gift. Die Pharmazeutische Zeitung berichtete im Januar diesen Jahres darüber, dass Patienten, die unter einer echten PTBS leiden, weniger an Flashbacks – so nennt man die unwillkürlich wiederkehrenden, bildliche Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse – leiden, wenn sie ungefähr 20 Minuten pro Tag Tetris spielen. Beide Aufgaben beanspruchen wohl gleiche Areale im Hirn, deren Kapazitäten nicht grenzenlos sind. Erschöpft man den „Vorrat“ mit Tetris, bleibt weniger fürs Trauma übrig.

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Mit VR-Brillen kann man komplett in virtuelle Welten eintauchen

Zurück zur Dosis und dem Gift: sehr gut dokumentiert ist die Neigung zu epileptischen Anfällen bei Videospielen. Zu dieser Thematik gibt es sogar sehr viele Studien. Übereinstimmend haben sie alle festgestellt, dass insbesondere Videospiele mit besonders kontrastreicher Grafik häufiger Anfälle bei Patienten mit photosensitiver Epilepsie hervorrufen, als das ganz normale Fernsehprogramm. Dies sogar dann, wenn für beides der gleiche Bildschirm verwendet wird. Aber, Sie ahnen es vielleicht: die Computerspiele sind hier nur das Medium, die Kontraste in der Grafik der eigentliche Auslöser. Und diese Grafik muss sich nicht zwangsweise in einem Spiel befinden, sogar unbewegte Bilder in natürlicher Umgebung können einen Krampfanfall auslösen.

Eher amüsant finde ich hingegen die sog. „Wii-Verletzungen„. Diese sind auf die drahtlose Nintendo-Computerkonsole Wii zurückzuführen, welche vor ungefähr 10 Jahren erstmals ein körperlich orientierteres Spielerlebnis für die breite Masse mit sich brachte. Bei Spielen wie „Wii Fit“ oder „Wii Sports“ spielt man mit einer bewegungssensitiven Fernbedienung – zum Beispiel Tennis, indem man die Schlagbewegungen mit der Fernbedienung in der Hand imitiert. Zu den „Wii-Verletzungen“ zählen unter anderem Schmerzen in der Schulter, in den Knien oder Gelenken. Vor allem ungeübte, mitunter auch ältere User sollen von diesen Sportverletzungen betroffen sein. Und, da mein Vater an dieser Stelle gerne mitliest:
Nein, Papa, an Dich habe ich beim Verfassen dieses Absatzes nicht gedacht – Dein Rekord beim Skispringen aus dem Jahr 2010 auf unserer Wii ist nach wie vor ungeschlagen!

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Die Wii und ihr frei beweglicher Controller

Und dann ist da auch noch sogenannte „Handy-Nacken.“ Damit sind ganz allgemein die Nackenschmerzen und -schäden beschrieben, die auftreten, wenn man zu häufig und zu lange aufs Smartphone, Tablet oder auf andere drahtlose Geräte schaut. Dass die Häufigkeit dieser Symptome zunimmt, ist leider nicht wirklich verwunderlich.

Bedenklich wird es, wenn man die Studien zu Depressionen im Zusammenhang mit Social Media betrachtet. Auch wenn die Gründe noch nicht hinreichend erforscht zu sein scheinen, so belegen die Untersuchungen doch, dass Menschen, die viel auf Facebook und Co. unterwegs sind, häufiger an Depressionen erkranken als deren Social-Media-freie Vergleichsgruppe. Der meines Erachtens plausibelste Erklärungsansatz: auf Sozialen Netzwerken zeigen wir uns alle von unserer Sschokoladenseite. Der schnöde Alltag hingegen wird nicht gezeigt. Wenn man sich nun also ständig Beiträge reinzieht, in denen hübsche Menschen an den besten Locations dieser Welt die tollsten Sachen unternehmen, und sich selbst damit vergleicht, dann verliert man diesen Vergleich in aller Regel. Kommt dazu noch Unzufriedenheit (mit dem eigenen Körper), Einsamkeit oder Liebeskummer hinzu, ist der Schritt in die Depression für viele nicht mehr weit entfernt.

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Wird für Depressionen mitverantwortlich gemacht: Instagram

Was also tun? Die Metapher mit der Dosis und dem Gift habe ich schon mehrfach in diesem Beitrag erwähnt. Auch bei Krankheiten, die auf Errungenschaften der Digitalisierung beruhen, gilt diese Binsenweisheit. Vermutlich sollten sie hier sogar etwas restriktiver angewandt werden, solange vieles davon für uns noch Neuland ist. Und wer weiß, vielleicht gibt es bald ICD-10-Codes für die v-PTBS, die Wii-Verletzungen und den Handy-Nacken – codiert im E-Rezept, das Sie in Ihrer Apotheke dann entgegen nehmen.