Verschlafen wir die Digitalisierung? – Teil 1

Erwartung, Ängste, Visionen – eine Einleitung

Erstmals  veröffentlicht in der Deutschen Apotheker Zeitung (DAZ) Nr.1/ 2018 vom 04.01.2018, S. 26ff.

Digitalisierung. Kaum ein Wort wurde in den letzten Jahren mehr strapaziert. Egal, ob in der DAZ, dem „manager magazin“ oder einer beliebigen lokalen Tageszeitung; ob als Leitmotiv von Kongressen, Messen und Firmenveranstaltungen: Digitalisierung ist momentan der größte gesamtgesellschaftliche Trend.

Was kommt Ihnen spontan in den Sinn, wenn Sie das Wort „Digitalisierung“ hören? Denken Sie an Ihre Warenwirtschaft und die dazu gehörige Hardware, die immer kleiner, schneller und – hoffentlich – besser wird? Oder assoziieren Sie mit „Digitalisierung“ eher eine Welt, in der jeder mit jedem vernetzt ist und Online-Portale eine Bedrohung für den stationären Handel darstellen? Oder gehen Ihre Überlegungen mehr in Richtung der Daten, die viele Patienten heute auf sozialen Medien freiwillig preisgeben und dabei den Datenschutz bewusst oder unbewusst ins Leere laufen lassen?

Das Thema ist, wie Sie gemerkt haben, sehr facettenreich. Dementsprechend kontrovers wird es auch branchenübergreifend diskutiert. Was die einen als Riesenchance sehen, empfinden andere als große Bedrohung. Dies liegt daran, dass viele Errungenschaften der Digitalisierung disruptiv sind, also einen so hohen Innovationsgrad haben, dass sie bestehende Technologien, Produkte oder Dienstleistungen teilweise oder vollständig verdrängt haben. Aber der Reihe nach. Wenn im Folgenden die Rede von Digitalisierung sein wird, ist damit ganz allgemein die Veränderung von Abläufen, Gewohnheiten und z.T. auch Objekten durch die zunehmende Nutzung digitaler Geräte und Technologien gemeint.

Wie sich das in unterschiedlichen Branchen auswirken kann, möchte ich zuänchst anhand von zwei Beispielen beleuchten, die nichts mit Gesundheit oder Arzneimittelversorgung zu tun haben. Einer dieser beiden Branchen steht der große Umbruch noch bevor, die andere hingegen ist schon weitgehend durchdigitalisiert.

Von der Langspielplatte zum Streamingportal

Letztere, die Musikindustrie, war schon sehr früh von der Digitalisierung betroffen. Als sie einsetzte hatten die Unternehmen dieser Branche Jahrzehnte mit stetig steigenden Umsätze hinter sich. Dieses Wachstum beruhte auf permanenten Innovationsschüben: sowohl inhaltlich durch ständig neue Musikstile und erfolgreiche neue Künstler, als auch durch neue Produkte, von der Langspielplatte (LP) über die Musikcassette bis hin zur Compact Disc (CD). Den Kunden wurden immer wieder neue Kaufanreize präsentiert. Gleichzeitig war aber die CD auch der Anfang vom Ende: als in den 90-er Jahren die MP3-Technologie aufkam, konnten plötzlich Kopien hergestellt werden, die – anders als bei der Musikcassette – keinen Qualitätsverlust mehr bedeuteten.

Die Konsequenz: seit dem Höhepunkt um das Jahr 2000 sind die Umsätze in dieser Branche allein in den USA um ungefähr 60% eingebrochen. Downloadportale, Streamingdienste und eine deutlich höhere Anzahl an Konzerten konnten diesen Trend zwar abmildern, aber nicht umkehren.

Downloads und Streaming sind, ebenso wie die CD, zu 100% digitale Medien – abgesehen von den Konzerten ist die Musikbranche also komplett digitalisiert.

Ausgangspunkt hierfür waren mehrere Technologiesprünge. Die Kassette hatte gegenüber der LP den Vorteil, dass sie zum einen deutlich kleiner und somit leichter zu transportieren war, zum anderen war sie Kratzern gegenüber unempfindlicher. Allerdings konnte man die Lieder nur in der Reihenfolge abspielen, in welcher sie aufgenommen wurden und nicht, wie bei der LP, den Tonkopf des Plattenspielers an einer bestimmten Stelle absetzen. Die CD löste diese Probleme, ohne auf die Vorteile der Kassette verzichten zu müssen. Jeder Innovationssprung verbesserte also die Produktqualität seines technologischen Vorgängers.

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Digitale Transformation in der Musikbranche: Von der Langspielplatte über die Kassette und CD zur MP3-Technologie; Bild: pablofdezr – stock.adobe.com

 

Zementiert wurde der Siegeszug digitaler Medien in der Musikindustrie dann durch flächendeckend schnelles Internet und die immer besser werdende Qualität digitaler Musik. Zuvor wurden die Kunden nämlich zum Kauf ganzer Alben „gezwungen“, auch wenn sie sich eigentlich nur einen Titel des Künstlers anhören wollten. Downloadportale, wie z.B. „Napster“ Ende der 1990-er Jahre oder aktuell „iTunes“, ermöglichten es, dass man sich genau diesen Titel herunterladen konnte. Bezahlt wurde auch nur dieser Titel und nicht das ganze Album. Noch weiter gehen Streamingportale, wie z.B. „Spotify“, auf denen man für einen monatlichen Beitrag unbegrenzt Musik hören kann, ohne die einzelnen Lieder im rechtlichen Sinne zu erwerben.

Carsharing statt parkenden Autos

Die zweite Branche, die wir uns näher ansehen, ist die Automobilbranche. Hier ist die digitale Transformation weit weniger fortgeschritten, Experten erwarten aber Veränderungen von historischem Ausmaß. Zum einen werden wir Menschen als Fahrer überflüssig werden: Autos können, übrigens nicht nur in der Theorie, schon heute komplett autonom fahren. Aus unterschiedlichen Gründen hat sich das bis jetzt jedoch noch nicht durchgesetzt. Eine neue Technologie (vom Verbrennungsmotor zur Elektromobilität) wird den Digitalisierungsgrad ebenfalls weiter antreiben. Schließlich ändert sich auch noch das Verbraucherverhalten momentan von Grund auf: die Ökonomie des Carsharings hat gute Chancen, das heute – höchst ineffiziente – Eigentum am Fahrzeug abzulösen.

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Hat das Auto als Eigentum ausgedient? (Car-)Sharing ist ein weiteres Merkmal der Digitalisierung; Bild: Andreaphoto – stock.adobe.com

 

Diese Veränderungen stehen uns nicht erst in ferner Zukunft an. Brancheninsider sprechen von maximal drei bis fünf Jahren, bis es auch hierzulande ganz alltäglich sein wird, sich von selbstfahrenden Elektroautos von A nach B fahren zu lassen, die man per App bestellt und bei denen man lediglich die Nutzung der zurück gelegten Strecke bezahlt. Anschaffung, Instandhaltung und Verbrauch werden dabei anteilig auf alle Benutzer umgelegt.

Interessant sind die Gemeinsamkeiten der Digitalisierung in der Musikbranche, wo sie bereits erfolgt sind, und der Automobilbranche, wo sie größtenteils noch bevorstehen. Schauen wir uns zunächst das zu Grunde liegende „Transformationsmuster“ an.

Der Nutzen zählt – das Medium ist egal

Zentraler Ausgangspunkt sind immer neue technologische Möglichkeiten, sofern diese einen Vorteil für den Kunden darstellen. Die Vorteile von MP3 gegenüber LP und CD wurden bereits dargelegt. Aber reichen Produktvorteile alleine tatsächlich aus, damit eine neue Technologie eine alte verdrängt? Nein! Nur wenn die Kunden zusätzlich zum Vorteil, der einer Innovation inhärent ist, einen konkreten, praktischen Nutzen haben, wird das Neue sich dauerhaft durchsetzen können. Bezogen auf die Musikindustrie und das Absatzmedium „komplettes Album“ wurde durch die Digitalisierung das bisher ungestillte Bedürfnis befriedigt, sich nur auf die Lieblingsmusiktitel beschränken zu dürfen ohne extra Geld für „Füllmaterial“ auszugeben. Dieses sorgte allerdings bis dahin für das Einkommen in der Musikindustrie.

Produktvorteile alleine reichen also nicht aus. Historisch beeindruckend belegt ist das im Bereich der Automobile. Als sich das Auto durchzusetzen begann, kamen viele Unternehmen auf den sich damals neu formenden Markt, die schnell einen ausgezeichneten Ruf erwarben und teilweise auch technologisch überlegen waren. Heute kennt kaum noch jemand Marken wie „Hispano-Suiza“, „Duesenberg“, „Simca“ oder „Stutz“. Sie alle waren aber in der Pionierzeit des Automobils bzw. kurz danach führende Hersteller. Und sie alle gibt es heute nicht mehr. Andere Marken, wie Daimler-Benz oder Chrysler stammen aus der gleichen Zeit und haben sich behauptet.

[Teil 2 des Artikels lesen Sie nächste Woche hier]