Die menschliche Geschichte ist voll von gescheiterten Revolutionen. In Frankreich ging es im Jahr 1789 darum, die Adelsherrschaft abzuschaffen. Nach über 10 Jahren kriegsähnlichen Zuständen wurden dann zwar im Jahr 1804 erstmals Bürgerrechte im Code Civil verankert, im selben Jahr aber auch Napoléon Bonaparte als Kaiser gekrönt. Ein deutlicheres Scheitern der revolutionären Ideen wird der Märzrevolution in Deutschland der Jahre 1848/49 attestiert. Die Bestrebungen nach Einheit, Freiheit und Unabhängigkeit wurden niedergeschlagen und es folgte eine lange Ära, die auch als Reaktion bekannt ist. Und auch die industrielle Revolution wurde immer wieder von Rückschlägen heimgesucht. Als allgemein bekanntes Beispiels sei hier nur die Feuerkatastrophe auf dem Luftfahrtschiff Hindenburg aus dem Jahr 1937 zu denken.

Die digitale Revolution an sich hat längst stattgefunden. Vom Kind bis zum Greis ist jeder im Besitz eines Smartphones. Viele Menschen sind auf sozialen Netzwerken mehr oder weniger aktiv. Gekauft wird online, E-Mails haben den Brief ersetzt und Tickets für Zug, Flug oder auch Events hat man inzwischen auf dem Handy. Soweit, so normal. Aber irgendwie scheint die digitale Revolution im Gesundheitssystem noch nicht angekommen zu sein. Bei meinem letzten Krankenhausaufenthalt (im Herbst 2022) wurden meine Werte beispielsweise noch per Hand in die Kurve eingetragen und den Arztbrief bekam ich tatsächlich bei der Entlassung in die Hand gedrückt. Auf Papier. Von vernetzten Systemen keine Spur. Aber geschrieben wurde der Arztbrief auf einem PC, und der wiederum hängt sicherlich im Internet. Und darüber hätte man ja, auf sicheren Wegen und verschlüsselt, klar, den Arztbrief auch direkt meiner Hausärztin zukommen lassen können. Oder meiner Apotheke. Aber während andere in diesem suspekten Internet mit unseren Daten zu Milliardären werden, werden sie dort, wo sie unsere Gesundheit schützen und bewahren könnten, allenfalls in analoger Form verwendet. Und das ist im Zweifel die unzuverlässigere Form. Vom erneuten Stocken bei der Einführung des E-Rezeptes möchte ich jetzt gar nicht anfangen. Aber klar ist: die Digitalisierung im Gesundheitswesen gerät immer mehr zur Farce.
Warum ist das so? Warum hat die Digitalisierung unser Privatleben voll im Griff, im Berufsleben spielt sie jedoch allenfalls eine Nebenrolle? Eine häufige Antwort lautet, dass Menschen in Gesundheitsberufen halt nicht so digitalaffin seien. Ernsthaft? Apotheken, die seit über 30 Jahren mit Warenwirtschaftssystemen arbeiten, während im Einzelhandel noch Preisetiketten aus Papier auf Senf und Ketchup geklebt wurden, sollen nicht digitalaffin sein? Die Krankenschwester, die 50.000 Follower auf TikTok hat, soll nicht digitalaffin sein? Ärzte, allen voran die Radiologen, die ohne Computer gar nicht arbeiten könnten, sollen nicht digitalaffin sein? Nein, digital sind wir heute alle. Das beste Beispiel lässt sich beobachten, wenn man mit der Bahn fährt und jemand im vollbesetzten Abteil eine WhatsApp-Nachricht bekommt. Unmittelbar nach dem Ertönen des „Plings“ ziehen drei Viertel der Menschen ihr Handy aus der Tasche und schauen aufs Display. Das nenne ich mal Konditionierung!

Kann es stattdessen nicht eher sein, dass es die eine digitale Gesundheitslösung noch gar nicht gibt? Dass es stattdessen aber für jede Zielgruppe, für jeden Heilberuf schon eigene Lösungen gibt, die etabliert und somit gesetzt sind. Es gibt überall bereits existierende digitale Lösungen, von denen jede für sich funktioniert. Und wer schon einmal, beispielsweise in der Apotheke, seinen Softwareanbieter gewechselt hat, der weiß, was für eine Anstrengung damit verbunden ist. Damit es aber ein vernetztes, patientenzentriertes digitales Gesundheitswesen gibt, wird jeder Akteur in diesem Gesundheitswesen gewohnte Prozesse und auch vorhandene digitale Lösungen aufgeben müssen. Und darauf hat niemand Lust. Das ist einerseits verständlich, denn von den meisten Gesundheitsberufen wird kontinuierlich ein Mehr an Leistung bei allenfalls stagnierender, üblicher Weise aber sinkender Vergütung gefordert. Und jetzt also noch ein Change-Projekt? Nein, danke – wir haben doch schon alles, was wir brauchen.
Nur eine Zielgruppe, oder Stakeholder, wie man auf Neudeutsch sagt, die ist bei derartigen Überlegungen komplett außen vor. Vorhang auf für die Patienten. Hier kommt unser Krankenversicherungssystem ins Spiel. Denn in Ländern, in denen Patienten für ihre Leistungen selbst bezahlen (wie in den USA), da gibt es längst digitale Lösungen, die den Patienten in seiner Rolle als Kunden in den Mittelpunkt stellen. Klar, denn hier buhlen Unternehmen nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien um die Patienten. Qualitativ ist die Versorgung dadurch sicherlich sehr gut – aber sie wird dadurch auch teuer für den Einzelnen, da sie nicht von einer großen Solidargemeinschaft mitfinanziert wird. Dennoch stellt sich mir die Frage, wieso wir uns in Deutschland so schwer tun, bestehende digitale Lösungen aus anderen Märkten zu adaptieren. Wenn die Technologie schon vorhanden ist, dann sollte es doch keine Raketenwissenschaft sein, Tools wie elektronische Verordnungen oder Patientenakten auf unser Gesundheitssystem anzupassen.

Bislang ist davon bei uns aber nicht viel sichtbar außer ganz vielen Mosaiksteinen. Einige von ihnen sind sogar sehr schön, manche App nutze ich sogar selbst gerne und regelmäßig. Dennoch ergeben die Mosaiksteine kein Bild. Es entstehen Datensilos in in sich geschlossenen Systemen, die meist nur dem jeweiligen Heilberufler selbst und (gelegentlich) auch dem Patienten zugängig sind. Aber wenn uns die Revolutionen der Vergangenheit eins lehren sollten dann doch folgendes: die Ideale der Revolution setzen sich am Ende immer durch! Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland leben wir inzwischen in Demokratien. Die Ziele der Revolutionäre wurden am Ende eines langen, blutigen und häufig auch unterbrochenen Weges schließlich erreicht. Auf dem Erfolg der industriellen Revolution basiert unser heutiger Wohlstand. Dank der digitalen Revolution hat sich unser Kommunikationsverhalten in gerade einmal 15 Jahren komplett gewandelt. Und wer denkt, dass sich Patienten noch lange damit zufrieden geben, dass Heilberufsangehörige nicht über alle für die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit relevanten Informationen verfügen, der irrt sich.
Die digitale Revolution im Gesundheitswesen ist keinesfalls zum Scheitern verurteilt. Sie wird, wie jede Umwälzung in der Geschichte, weiter voranschreiten. Es ist allenfalls fraglich, ob deutsche Unternehmen, die im Gesundheitssystem tätig sind, danach noch eine Rolle spielen werden. Denn es stehen hier schon die Tech Giganten aus dem Silicon Valley bereit, um deren Platz einzunehmen. Oder wie sonst sollte man die Werbung von Apple für die neueste Generation der Apple Watch deuten?
[…] weiter an passende regionale Angebote (z. B. Seniorentreff, Theater, Schuldnerberatung). Daher ist Netzwerkmanagement, d. h. der Aufbau und die Pflege von Kooperationen mit Beratungseinrichtungen, Vereinen und […]
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