Wie Heilberufe mit KI wachsen können

Auf LinkedIn habe ich letzte Woche einen tollen Artikel von Dr. Bertalan Meskó, dem Director des Medical Futurist Instituts in Budapest, gelesen. Die Grundaussage des Artikels lautet, dass die Angst der Heilberufe vor der Vernichtung ihrer Arbeitsplätze durch Künstliche Intelligenz (KI) nicht angebracht sei. Im Gegenteil, KI wird Verwaltungsaufgaben automatisieren und monotone Tätigkeiten des Alltags übernehmen können, so dass Angehörige von Heilberufen mehr Zeit zur Verfügung bekommen, um sich auf ihre ursprüngliche Mission konzentrieren zu können: Menschen auf dem Weg zur Erhaltung oder Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu begleiten – mitfühlend, kreativ und voller Empathie.web-3706561_1920

Wenn ich mit Kollegen aus der IT diskutiere, die einen deutlich technikaffineren Hintergrund haben als ich, dann streiten wir uns häufig darüber, was nun schon unter KI fällt, und was lediglich „smartere Algorithmen als früher“ sind. Von daher gefällt mir das Beispiel aus dem eingangs zitierten Artikel sehr gut, weil es sich gar nicht mit abstrakten Definitionen aufhält, sondern an einem sehr konkreten Beispiel aus dem Jahre 2016 zeigt, wozu KI schon heute in der Lage ist – und welches Mindest man braucht, um sich dieses Potential zu Nutze zu machen … egal, in welchem Beruf. Bei dem Beispiel geht es um Go – einem der komplexesten Brettspiele überhaupt.

Als im Jahr 1996 der Schachcomputer „Deep Blue“ von IBM gegen Garri Kasparov gewonnen hatte, war das eine Sensation, die weltweit für Schlagzeilen sorgte: ein Computer gewinnt gegen einen Menschen in einem Denkspiel. Auf dem Schachbrett mit seinen 64 Feldern (8×8) hat man als Spieler im Durchschnitt die Auswahl zwischen ungefähr 30 möglichen Bewegungen. Bei Go hingegen, wo das Spielfeld 361 Felder hat (19×19), haben Spieler die Wahl zwischen gut 200 möglichen Zügen. Und die Anzahl der möglichen Zusammenstellungen von Steinen auf dem Spielbrett übersteigt die Anzahl der Atome im Universum. Einigen wir uns einfach darauf, dass Go um ein vielfaches komplexer ist als Schach.

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Schach: so etwas wie Go für Anfänger?

Im März 2016 gewann „AlphaGo“ von Google Deepmind – völlig überraschend – gegen den damals weltbesten Go-Spieler, Lee Sedol aus Südkorea. Wer also nach dem Sieg von „Deep Blue“ gegen Kasparov Angst vor einem Aufstand der Maschinen hatte, der hat seit dem 4:1 Sieg von „AlphaGo“ entweder schlaflose Nächte vor Sorge – oder die Implikationen dieses Sieges einer Maschine über einen Menschen nicht ganz verstanden.

Es geht hier nämlich nicht um reine Rechenpower, wie sie besser und schnellere Prozessoren gemäß dem Moore’schen Gesetz regelmäßig hervorbringen. Man braucht, um bei Go überhaupt eine Chance zu haben, Kreativität und Intuition – Eigenschaften, von denen die meisten Menschen annehmen, dass sie KI völlig fremd sind und immer bleiben werden. Für entsprechend hoch waren die Siegchancen von Lee Sedol im Frühjahr 2016 eingeschätzt worden. Und dennoch hat er von 5 Partien nur eine einzige gewinnen können. Was ist passiert?

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Erfolg auf mehreren Ebenen

Der Schlüssel für den Erfolg von „AlphaGo“ war ein völlig neuartiges maschinelles Lernen. Nochmal kurz zurück zum Schachcomputer „Deep Blue,“ der sich sein Können von der Art und Weise abgeschaut hat, wie Menschen Schach spielen. Dieses „Deep Learning“ haben die Entwickler von IBM dann mit den damals leistungsfähigsten Prozessoren zur Berechnung komplexerer Spielzüge kombiniert und somit die erfolgversprechendsten Züge ausrechnen können, was 1996 noch zum Sieg gereicht hat. „AlphaGo“ hingegen verwendete eine Kombination neuronaler Netwerke und eine Methode namens „verstärkendes Lernen“. Letzteres bedeutet, kurz zusammengefasst, dass die Entwickler von Google Deepmind dem Algorithmus nicht gezeigt haben, wie sie das Spiel spielen. Stattdessen wurden lediglich die Spielregeln programmiert und dann hat man das Programm Abermillionen von Spielen gegen sich selbst spielen lassen. Abschließend wurde dem Programm  gespiegelt, welche Ergebnisse richtig waren, also gewinnbare Spiele darstellten, und welche nicht. So konnte die Software ihre eigene Strategie entwickeln und selbst Wege zum Erreichen richtiger Ergebnisse finden. Die kognitiven Beschränkungen, Denkfehler und Glaubenssätze von Menschen – in diesem Fall die der Entwickler – wurden dadurch nicht in den Algorithmus einprogrammiert. Dadurch konnte „AlphaGo“ völlig neuartige Spielzüge erfinden, auf die selbst der Champion Lee Sedol nie gekommen wäre, weil sie einfach zu unkonventionell waren.

Wie Menschen haben im Laufe der Evolution Denkmuster und Mechanismen entwickelt, mit der wir unsere Umwelt wahrnehmen. KI hat diese nicht – weder im positiven noch im negativen Sinne. Es gibt keine kognitiven Beschränkungen oder Lernkurven wie beim Menschen. Natürlich war nicht nur die (in Europa sehr überschaubare) Go-Fachwelt nach dem ersten Sieg von „AlphaGo“ sehr überrascht. Auch Lee Sedol beschreibt seine Gefühle nach der ersten Niederlage als eine Mischung aus Enttäuschen und Scham. Immerhin spielte er als unangefochtener Champion quasi stellvertretend für die gesamte Menschheit.lego-1044891_1920

Nur Spiel 4 konnte Lee Sedol gegen „AlphaGo“ gewinnen. Und hierin liegt die eigentliche Essenz dieses Blogbeitrags. Denn nach den ersten 3 Niederlagen des Menschen gegen die Maschine ließ sich etwas beobachten. Lee Sedol fing an, zu verstehen, was „AlphaGo“ ist und wie es agiert. Er analysierte die merkwürdigen Züge des Algorithmus – und adaptierte es in sein eigenes Spiel. Es war, als würde er sich selbst auf den Schultern der überragenden Technologie zu einem noch besseren Spieler weiter entwickeln. Nicht schlecht, wenn man schon der Beste auf der Welt ist, oder?

Und genau diese Reaktion erhofft sich nicht nur der von mir hier hemmungslos zitierte Dr. Meskó, sondern auch ich mir von allen Heilberufen, wenn es um Digitalisierung im Allgemeinen und KI im Speziellen geht. Diese Technologien werden in den nächsten Jahren ohne jeglichen Zweifel neue Wirkstoffe entdecken, neue Behandlungen erfinden und innovative Therapien ermöglichen. Sie werden neue Kombinationen hervorbringen, auf die Ärzte, forschende Pharmaunternehmen oder menschliche Innovationstreiber niemals gekommen wären, da sie nicht von tradierten Forschungspfaden und Denkmustern limitiert sind. Sie könnten sogar mit völlig neuartigen Lösungen um die Ecke kommen – ohne dass wir auf Anhieb verstehen könnten, wie und wieso.gears-1443730_1280

Für Heilberufe heißt das nichts weniger, als sich darauf einzulassen, auf den Schultern von KI zu besseren Ärzten, Apothekern, Pflegern oder Therapeuten zu werden. Wem es gelingen wird, die Entscheidungswege von KI zu verstehen, hat die wahre Kunst der Heilberufe erlernt. Denn so etwas wird nur mit dem allerhöchsten Verständnis für Problemlösungen und kognitiven Fähigkeiten möglich sein. Hierin liegt keine Bedrohung für Heilberufe. Durch die Digitalisierung bekommen wir zunehmend mehr Gesundheitsdaten. KI wird uns helfen, diese zu analysieren, um neue Wege zur Wiederherstellung und Erhaltung der Gesundheit beschreiten zu können. Gleichzeitig kann KI Verwaltungsaufgaben übernehmen und so den Tagesablauf von Heilberuflern und Patienten entzerren.

Wenn wir also KI als Werkzeug in den Händen von Heilberuflern betrachten und nicht andersherum, so werden – mehr denn je – Fähigkeiten wie Mitgefühl, Empathie, Kreativität, Problemlösung und eine tiefe menschliche Verbindung die Beziehung zwischen Apotheker und Patient nur verstärken können.