Kapitel 18: der demographische Wandel

Wir sind die Generation, in der die einzelnen Individuen älter werden, als in jeder Generation bisher. Der derzeit älteste noch lebende Mensch beim Verfassen dieses Textes ist eine Italienerin, die im Jahr 1899 geboren wurde – und sie gibt noch Interviews. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Neugeborenen in Deutschland liegt derzeit bei über 82 Jahren für Frauen und über 78 Jahre für Männern – noch vor 100 Jahren war das Erreichen eines solchen Alters für den durchschnittlichen Menschen undenkbar. Aber in Mitteleuropa sind wir derzeit nicht mehr von Kriegen, einer hohen Säuglingssterblichkeit und vielen Krankheiten geplagt, die vor 100 Jahren noch nicht therapierbar waren. Auch wenn wir dadurch auf ein ganz anderes Problem zusteuern, nämlich das der Überbevölkerung (und für das eine mögliche Lösung, die Geburtenkontrolle, zumindest im Bereich der Kontrazeptiva eine gewaltige Schnittmenge mit der Pharmazie aufweist – aber das ist ein anderes Thema für ein anderes Buch, s.u.), liegt darin einer der größten Treiber für die zunehmende Digitalisierung. Wir wollen nämlich nicht einfach nur älter werden – wir wollen gesund und vital älter werden!

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Die Lebenserwartung steigt und mit ihr die Anzahl der Menschen auf unserem Planeten. Wer dazu eine umfassende Abhandlung lesen möchte, dem sei Alan Weisman, „Countdown: hat die Erde eine Zukunft?“, Piper, 2013, empfohlen

Die Digitalisierung kann maßgebliche Unterstützung dabei leisten, die Unabhängigkeit im Alter möglichst lange zu bewahren. Schon jetzt wird dies von vielen Menschen in Anspruch genommen. Wie die folgende Abbildung zeigt, nutzen bereits 28% der über 65-jährigen in Deutschland ein Smartphone. Mehr als die Hälfte von ihnen hat 5 chronische Erkrankungen oder mehr. In der Altersgruppe der 50- bis 64-jährigen nutzen schon 65% ein Smartphone, und selbst hier hat gut ein Drittel 5 oder mehr chronische Leiden.

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Quelle: NOVENTI GmbH

In diesen beiden Altersgruppen befinden sich heute bereits gut 36 Millionen Menschen, also nahezu die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Davon nutzen in Summe gut 17 Millionen ein Smartphone, könnten also durch Apps spürbare Unterstützung erfahren,  wie zum Beispiel durch Erinnerungen an bevorstehende Arztbesuche, an durchzuführende Messungen oder einfach nur die Einnahme von Medikamenten. Und natürlich werden diese Zahlen nur noch größer werden: in 10 Jahren sind die heute 50-jährigen 60 Jahre alt, benutzen aber nach wie vor ihr Smartphone (oder dessen Nachfolgetechnologie – wenn die Entwicklung so weiter geht wie bisher, werden wir in 10 Jahren das heute neueste Smartphone groß, klobig und unhandlich finden). Denn sie nutzen ja heute, wie eben ausgeführt, bereits zu 65% ein Smartphone. Folglich wird die Anzahl der Patienten, die für Unterstützung durch digitale oder gar mobile Medien empfänglich sind, in den nächsten Jahren immer weiter zunehmen. Hierin liegen große Chancen für neue Geschäftsmodelle und Ideen – und unwägbare Risiken vor allem für diejenigen, die sich nicht mit der Digitalisierung auseinander setzen.

Die Akzeptanz, nicht nur bei „den Alten“, für Unterstützung bei der Bewahrung der eigenen Selbstständigkeit im Alter ist sehr hoch. Nach einer im manager magazin Ausgabe 07/2016 veröffentlichten Umfrage wären 83% der Deutschen bereit, im Alter zu Hause einen Roboter einsetzen, um unabhängig zu bleiben. Auch das ist keine Zukunftsmusik mehr. In Frankreich gibt es mit Romeo den ersten „Pflege-Roboter“, der einfachste Tätigkeiten im Haushalt übernehmen kann; gepaart mit weiteren Robotern, beispielsweise den schon seit längerer Zeit in Bau- und Elektromärkten angebotenen, sich autonom steuernden Maschinen zum Staubsaugen oder Rasenmähen, ergeben sich dadurch viele Faktoren, die einen evtl. irgendwann notwendigen Umzug ins Pflege- oder Altenheim zeitlich nach hinten schieben können.

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Der Pflegeroboter „Romeo“, Quelle: SoftBank Robotics Europe

 

Die Firma Cyberdyne Care Robotics aus Bochum stellt Exoskelette her. Diese ermöglichen es Menschen mit Querschnittslähmung (allerdings nur denjenigen ohne komplette Durchtrennung des Rückenmarks), das Laufen wieder zu erlernen. Und das in so kurzer Zeit, wie man es bisher für undenkbar hielt. Die Funktionsweise klingt für mich immer noch wie Science Fiction … nur habe ich selbst eine solche Gerätschaft bereits sehen und anprobieren dürfen. Sensoren, nicht unähnlich denen bei einem EEG, nehmen hierbei die verbleibenden Impulse auf, die aus dem Gehirn kommen, und leiten diese an das Exoskelett weiter, welches dann die dazu gehörige Bewegung ausführt bzw. unterstützt. Die ausgeführten Bewegungen selbst wiederum generieren Impulse, die dem Gehirn über das Rückenmark Impulse schicken und dadurch mitteilen, dass tatsächlich – wie angefordert – Bewegungen ausgeführt werden. Durch dieses sog. „intrinsische Feedback“ wird ein positiver Kreislauf in Gang gesetzt, an dessen Ende viele Patienten über deutlich mehr Gehvermögen verfügen, als zuvor. In einigen Fällen konnte das Gehvermögen sogar zu 100% wieder restauriert werden.

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HAL-Exoskelett von Cyberdyne; Quelle: Cyberdyne Care Robotics

 Die Erhaltung und Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit kann von der Digitalisierung unterstützt und begleitet werden. Das Ziel muss sein, die Selbstständigkeit älterer Menschen zu erhalten. Der Mediziner Prof. Dr. Axel Ekkernkamp proklamiert in einem Essay sogar, dass es künftig keinen Kampf mehr gegen das Altern („Anti-Aging“) geben werde, sondern die aktive Gestaltung des Lebens in den Vordergrund treten werde („Pro-Aging“). Er bezieht sich dabei auf eine Umfrage von Statista aus dem Jahr 2016, wonach die Gesundheit als wichtigsten Faktor für Lebensqualität angesehen wird – noch vor der intakten Familie und der Selbstbestimmung des Daseins.

(vgl.: Prof. Dr. Axel Ekkernkamp „Die Neuvermessung der Gesundheit“, in: SENATE 3/16, S. 50ff.)

Somit ist, nicht nur in dem eben zitierten Essay von Prof. Ekkernkamp, vollkommen klar, dass die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steigen wird. Digitale Anwendungen und Applikationen, die einfach zu bekommen oder installieren sind, die einfach und intuitiv zu bedienen sind und dabei in der Aussagekraft und dem Nutzen für den einzelnen Patienten immer mehr an Wichtigkeit zunehmen, erobern hier eine Marktlücke, die sich in den letzten 2-3 Jahren überhaupt erst aufgetan hat. Der große Unterschied zum bisherigen Gesundheitsmarkt, der überwiegend von Kostenträgern, Leistungserbringern und deren Angeboten geprägt war: die Nachfrage des Patienten wird in Zukunft deutlich mehr das Angebot bestimmen – wenn nicht gar diktieren. Also sollten wir uns, nachdem wir die Technologien ausführlich beleuchtet haben und die treibenden Megatrends kennen, als nächstes dem Patienten und seinem Bedarf zuwenden.